29. Mai 2024, 11:01 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine seltene Nervenerkrankung, die bereits innerhalb weniger Tage zu Lähmungen im ganzen Körper führen kann. Zudem können Störungen des Kreislaufs (Anstieg oder Abfall des Blutdrucks), des Herzrhythmus (Abfall oder Anstieg der Herzfrequenz) und zu vermehrtem Schwitzen auftreten. Letztes Jahr machte die Krankheit Schlagzeilen, als bereits im Januar 182 Fälle in Peru aufgetreten waren – vier davon mit tödlichem Verlauf – sodass damals ein Gesundheitsnotstand ausgerufen wurde.
Auch wenn aktuell in Deutschland kaum Fälle bekannt sind und sich die Lage in Peru stabilisiert hat, sollte die Erkrankung nicht unterschätzt werden. Denn sie kann schnell einen kritischen Verlauf haben. Durch ein fehlgeleitetes, überaktives Immunsystem werden die Nerven angegriffen. Viele Fälle treten aber nach einer Infektion auf. Außerdem soll gemäß der aktuellen Studienlage ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und einer Covid-Infektion vorliegen. Doch durch welche Symptome macht sich das Guillain-Barré-Syndrom eigentlich bemerkbar und wie gefährlich ist es?
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Übersicht
Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?
Beim Guillain-Barré-Syndrom handelt es sich um eine akut verlaufende Form der Nervenkrankheit Polyneuropathie. Dabei greift das körpereigene Immunsystem die Nerven an, was zu Muskelschwäche führt. Von der Störung betroffen sind einer von zwei (oder beide) Bereichen:
- Myelinscheide
- Axon
Die Myelinscheide umschließt den Nerv und macht eine schnelle Signalübertragung möglich. Das Axon ist der Teil des Nervs, der die Signale übermittelt. Das Guillain-Barré-Syndrom sorgt also dafür, dass Nerven Impulse nicht richtig weiterleiten können.1
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Ursache
Die Ursache für die Erkrankung ist eine Entzündung der Nerven. Die wird durch ein fehlgeleitetes, überaktives Immunsystem vermittelt. Antikörper attackieren die Nerven; damit gehört das Guillain-Barré zu den Autoimmunerkrankungen. Da die ersten Symptome häufig fünf Tage bis drei Wochen nach einer Infektion auftreten, ist die Vermutung, dass das Immunsystem „hochfährt“, um die Erreger zu bekämpfen. Es passiert jedoch ein Fehler, und statt der Erreger werden Nerven angegriffen. Infektionen, die mit Guillain-Barré-Syndrom in Verbindung gebracht werden, sind etwa Infektionen der oberen Atemwege, eine bakterielle Magen-Darm-Infektion (mit Campylobacter-Bakterien), eine Grippe oder Erkältung.2 Auch nach Impfungen und Operationen gab es schon Krankheitsfälle.
Als Folge von Covid-19
In Einzelfällen ging der Nervenkrankheit auch eine Coronainfektion voraus. Einen solchen, sehr dramatischen Fall, hat das Klinikum Ingolstadt beschrieben. Bei dem betroffenen Patienten entwickelte sich die Erkrankung und der Verlust der Muskelkontrolle so schnell und extrem, dass er sogar künstlich beatmet werden musste. Fünf Wochen lang war der Mann praktisch in „seinem Körper eingesperrt“ (Locked-In-Syndrom) und konnte nicht kommunizieren. Dank der Behandlung durch die Ärzte und die Betreuung des Pflegepersonals im Krankenhaus verbesserte sich der Zustand des Mannes und er war er nach und nach wieder in der Lage, zunehmend mehr Bewegungen auszuführen.3
Studienlage
Covid kann offenbar das Risiko erhöhen, an dem Guillain-Barré-Syndrom zu erkranken
Eine Studie analysierte Gesundheitsdaten von über drei Millionen Menschen in Israel, die noch nie an dem Guillain-Barré-Syndrom erkrankt waren. Die Teilnehmer wurden anderthalb Jahre untersucht, wobei 76 Menschen die Erkrankung in dem Zeitraum entwickelten. Diesen wurde eine Kontrollgruppe von 760 Personen gegenübergestellt, die nicht an dem Syndrom erkrankt waren. Sowohl bei den erkrankten als auch den nicht erkrankten Personen prüften die Forscher, ob sie sechs Wochen vor der Diagnose Guillain-Barré-Syndrom an Covid erkrankt waren oder aber einen Covid-Impfstoff injiziert bekommen hatten. Die Studie ergab, dass ungefähr zwölf Prozent der Menschen, die kürzlich eine Covid-Infektion hatten, auch das Guillain-Barré-Syndrom entwickelten. Bei den nicht am Syndrom Erkrankten waren es nur drei Prozent. Außerdem gab es Hinweise dafür, dass Menschen, die eine Covid-Impfung erhalten haben, offenbar ein über 50 Prozent geringeres Risiko haben, an dem Guillain-Barré-Syndrom zu erkranken.4,5
Studie zum Zika-Virus
Auch nach einer Infektion mit dem Zika-Virus entwickelten einige Patienten das Guillain-Barré-Syndrom. In einer französischen Studie, in der Forscher nach einem Ausbruch von GBS in Französisch-Polynesien Blutproben von Betroffenen untersuchten, konnten sie 2016 einen Zusammenhang zwischen der Infektion und GBS und auch erstmals wissenschaftlich nachweisen. Beim Zika-Virus handelt es sich um eine Krankheit, die von Mücken auf den Menschen übertragen wird.6
Fälle des Syndroms sind sehr selten. GBS tritt jährlich bei 0,5 bis zwei von 100.000 Personen auf.7
Die Symptome
Das Syndrom macht sich zunächst durch Schwäche, Kribbeln und Empfindungsverlust bemerkbar. Die Symptome beginnen zumeist in den Beinen, manchmal auch in den Armen oder im Kopf, und breiten sich dann im Körper aus. Reflexe nehmen ab oder schwinden ganz. Vor allem das Gefühl der Schwäche ist ein starker Indikator für diese Form der Polyneuropathie. Sie ist in den meisten Fällen drei bis vier Wochen nach Auftreten der ersten Krankheitszeichen am stärksten ausgeprägt.
Die Schwäche kann auch die Gesichts- und Schluckmuskulatur angreifen, sodass Patienten Probleme beim Essen und Trinken haben. Sie erbrechen sich, leiden an Mangelernährung und/oder Dehydrierung. In fünf bis zehn Prozent der GBS-Fälle ist die Atemmuskulatur so stark von der Schwäche bzw. Lähmung betroffen, dass wie im oben beschriebenen Fall eine künstliche Beatmung notwendig wird.
Gefahr eines schnellen Fortschreitens
Die Gefahr des Syndroms besteht darin, dass die Erkrankung schnell voranschreitet und die Symptome in schlimmen Fällen rasch bedrohlich werden können. Generell kommt das Fortschreiten der Nervenkrankheit nach etwa acht Wochen zum Stillstand. Dennoch gilt: Eine sofortige Behandlung in einer Klinik ist notwendig, da nicht vorhergesehen werden kann, wie ernst das GBS von Fall zu Fall verlaufen wird.
Bei einer sofortigen Behandlung zeigen sich Verbesserungen häufig schon nach Tagen oder Wochen. Unbehandelt heilt das Guillain-Barré-Syndrom nach einigen Monaten ab. Bleibende Schäden wie Schwäche oder eine chronische Polyneuropathie sind möglich.
Behandlung
Aufgrund der möglichen schnellen Verschlechterung des Zustands von Patienten sollte GBS in einer Klinik behandelt werden, die intensivmedizinische Versorgungsmöglichkeiten hat. Therapiert wird mit Immunglobulinen, die die an den Nerven angedockten fehlerhaften Antikörper verdrängen und das Immunsystem umprogrammieren. Außerdem kommt ein medizinisches Verfahren namens Plasmapherese („Blutwäsche“) zur Anwendung. Dieses Austauschverfahren filtert die aggressiven autoreaktiven Antikörper, aus dem Blut des Patienten.8
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Mehr Fälle des Guillain-Barré-Syndroms auch in Deutschland denkbar?
Aktuell ist wohl nicht von einer Gefahr vermehrter Fälle in Deutschland auszugehen. Selbst einzelne Fälle des Syndroms sind selten, noch unwahrscheinlicher ist ein Ausbruch vieler Fälle. Dass es jedoch nicht vollständig unmöglich ist, zeigt die damalige Situation in Peru.9 Da der Ursprung unklar ist, sollte man jedoch von Prognosen für andere Länder – inklusive Deutschland – absehen.
Ein Risikofaktor könnte zukünftig aber das Zika-Virus darstellen, das laut Forschung im Zusammenhang mit dem Guillain-Barré-Syndrom steht. Denn seit Jahren breiten sich in Europa und Deutschland Mückenarten aus, die ebendiesen Virus übertragen können. Allerdings ist es ebenfalls unklar, ob diese Mückenart das Zika-Virus unter den in Deutschland herrschenden Klimabedingungen übertragen kann. Laut dem Robert Koch Institut wurden seit dem Jahr 2019 nur 10 Fälle von Zika-Virus-Infektionen gemeldet.10
Dieser Artikel entstand unter fachlicher Beratung von Prof. Dr. med. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung.