28. April 2025, 13:16 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Laut dem Robert-Koch-Institut stuften sich in den Jahren 2019 und 2020 rund 46,6 Prozent der Frauen und 60,5 Prozent der Männer in Deutschland selbst als übergewichtig ein. Fast jeder fünfte Erwachsene erfüllt dabei bereits die Kriterien für Adipositas. Doch wie entsteht dieses Übergewicht eigentlich? Viele vermuten, dass es sich langsam durch kleine, tägliche Kalorienüberschüsse aufbaut. Ein Zusammenschluss von Experten hat jedoch eine andere Vermutung.
Übergewicht und Adipositas nehmen seit Jahren zu – und das trotz intensiver Aufklärung und moderner Medikamente. Adipositas zählt zu den häufigsten chronischen Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen. Betroffene leiden häufig unter eingeschränkter Lebensqualität und tragen ein erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen wie Arthrose, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In der Vorstellung der meisten Menschen schleichen sich die unliebsamen Pfunde über die Zeit auf die Hüften. Eine Arbeitsgruppe von Sportwissenschaftlern rückt nun jedoch einen bislang wenig beachteten Faktor ins Zentrum: Kurzzeitige, abrupte Veränderungen im Alltag könnten eine wesentlich größere Rolle für die langfristige Gewichtszunahme spielen als bislang angenommen.1
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Übersicht
Übergewicht – Entstehung anders als lange gedacht?
Ein paar Kalorien zu viel am Tag – und auf Dauer wird man dick. Oder? Bisher gingen viele Fachleute davon aus, dass Menschen durch einen über Jahre hinweg konstanten Kalorienüberschuss zunehmen – also täglich nur zehn bis 20 Kilokalorien mehr aufnehmen, als sie verbrauchen. Vor dem Hintergrund mangelnden Erfolgs im Kampf gegen Adipositas stellt sich jedoch die Frage, ob nicht an der falschen Stellschraube gedreht wurde – oder nicht an allen wichtigen. So stellen Arthur Daw und seine Kollegen von der Loughborough University in einem Perspektivenartikel die Vorstellung der schleichenden Gewichtszunahme infrage.2
Studien erfassten das Körpergewicht nur selten
Nehmen Menschen wirklich langsam zu oder gibt es eine Schwachstelle in der Methodik, wie das Körpergewicht in Studien erhoben wird? Die Vorstellung, dass eine Gewichtszunahme kontinuierlich, wenn auch schleichend, voranschreitet, stammt aus Beobachtungsstudien, welche die Gewichtsveränderungen der Probanden über längere Zeiträume dokumentierten. Doch hierbei finden Datenerhebungen zum Gewicht der Probanden nur selten statt, z. B. jährlich. Infolge werden die Gewichtszunahmen über die Zeit häufig so interpretiert, dass die Personen täglich ein paar wenige Kalorien zu viel essen würden.3
Laut den Autoren reicht ein so grobes Messintervall nicht aus, um die tatsächlichen Muster der Gewichtszunahme zu erfassen. Sie vermuten: Viele Menschen nehmen nicht schleichend zu, sondern in kurzen, aber deutlichen Phasen – etwa in Zeiten besonderer Belastung oder Veränderung. Diese könnten sich über Jahre hinweg summieren und so zur schrittweisen Gewichtszunahme führen – auch wenn Betroffene subjektiv nicht das Gefühl haben, dauerhaft „zu viel“ zu essen.
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Weihnachtspfunde bleiben auf den Hüften
Als Beispiel für solch eine Phase führen Daw und sein Team eine europaweit durchgeführte randomisierte, kontrolliere Studie an. Diese untersuchte wöchentliche, saisonale und urlaubsbezogene Gewichtsschwankungen von 3725 Teilnehmenden. Das Ergebnis: Innerhalb einer Woche schwankte das Gewicht um 0,35 Prozent, über die Weihnachtszeit nahm das Gewicht durchschnittlich um 1,35 Prozent zu – und wurde in den Folgemonaten nicht vollständig ausgeglichen.4
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Risikofaktor Lifestyle
Diese Ergebnisse legen nahe, dass Gewichtszunahme häufig eher aus großen, relativ kurzfristigen Episoden mit positiver Energiebilanz resultieren, so die Autoren. Diese Episoden werden laut Daw und seinen Kollegen durch „Störungen“ im Alltag des Einzelnen ausgelöst, die auf eine vorübergehende, aber erhebliche Disbalance zwischen Energiezufuhr und -verbrauch zurückzuführen sind. Sie schlussfolgern, dass eine „Instabilität des Lebensstils“ ein bisher unterschätzter Risikofaktor für eine Gewichtszunahme haben könnte.
Diese störenden Phasen, in denen das Gewicht sprunghaft steigt, nennen die Autoren „Lifestyle-Disruptoren“. Gemeint sind alle Lebenssituationen, in denen Ernährung und Bewegung kurzfristig aus dem Gleichgewicht geraten. Für Beispielsituationen führen die Autoren eine Studie an, die adipöse Probanden nach möglichen Erklärungen für ihr Übergewicht befragte. Zwar waren die Antworten sehr unterschiedlich, hatten aber den gemeinsamen Nenner, dass es sich um besondere Lebensereignisse handelte, durch die das Gewicht anstieg. Dazu gehörten neue Wohnorte, Ereignisse in sozialen Beziehungen oder der Karriere.5 Und solche Situationen können Stress verursachen – welcher bereits nachweislich mit Gewichtszunahmen im Zusammenhang steht.6 Außerdem deuten experimentelle Studien darauf hin, dass wenige Tage mit kalorienreicher Ernährung ausreichen können, um die Insulinempfindlichkeit zu reduzieren und so Gewichtszunahmen zu begünstigen.7
Wenn man an Weihnachten wie ein Leistungssportler isst
Laut den Sportwissenschaftlern seien wiederkehrende Auslöser, welche etwa saisonal oder berufsbedingt sind, besonders kritisch. Hierzu zählen Feiertage wie Weihnachten. In Großbritannien sei die Weihnachtszeit ein Paradebeispiel für einen Lifestyle-Disruptor, da hier die tägliche Energieaufnahme auf Werte ansteigen kann, die sonst von Tour-de-France-Fahrern berichtet werden: Bis zu 6000 Kalorien wurden verzehrt, trotz weniger oder unveränderter Bewegung an den Feiertagen.8,9

Können einzelne Tage wirklich so stark ins Gewicht fallen?
„Ich finde den neuen Ansatz der Wissenschaftler ziemlich spannend und nachvollziehbar. Es ist schwer vorstellbar, dass ausschließlich winzig kleine Kalorienüberschüsse von z. B. zehn Kalorien täglich Hauptverursacher für Übergewicht sind. Zum einen würde es so mehr als zwei Jahre dauern, bis sich ein ganzes Kilo Körperfett angesammelt hat. Zum anderen kann der Körper so kleine Überschüsse – und auch winzige Defizite – abfedern. Ich bin eigentlich eine Freundin davon, an den wenigen Feierlichkeiten im Jahr nicht so sehr auf die Kalorien zu schauen. Getreu dem Motto ‚Es kommt darauf an, was ich zwischen Silvester und Weihnachten esse, nicht andersherum‘. Doch es lohnt sich wohl nicht komplett auf Laissez faire umzusteigen – zumindest nicht, wenn man wie in dem Beispiel der Wissenschaftler stolze 6000 Extra-Kalorien an Weihnachten verdrückt. Aber das war ja auch die Obergrenze.“
„Meiner Einschätzung nach könnten eher längere Phasen das Gewicht ungünstig beeinflussen. Im ersten Corona-Lockdown hatte ich nach einiger Zeit auch etwas mehr auf den Hüften. Zuvor fuhr ich jeden Tag Rad, nun saß ich Zuhause. On top war Kochen aus Mangel an Alternativen mein neues Hobby. Und obwohl eher gesunde Gerichte auf dem Plan standen – ich lernte etwa, wie man vietnamesischen Reisnudelsalat macht – machte sich das viele Kochen und wenige Bewegen irgendwann doch auf der Waage bemerkbar. Und auch wenn ich nicht akribisch getrackt habe, wie ich die Pfunde wieder los geworden bin, erinnere ich mich, dass es lästiger war und länger gedauert hat, als gedacht. Bei den nächsten Feierlichkeiten werde ich auf jeden Fall an diese Studie zurückdenken und das Essen zwar genießen, aber maßvoll bleiben.“
Technik kann helfen, kritische Phasen frühzeitig zu erkennen
Digitale Helfer wie Apps, Wearables oder „smarte Waagen“ könnten künftig eine wichtige Rolle spielen. Sie machen nicht nur tägliche Schwankungen sichtbar, sondern könnten auch Warnsignale geben, wenn sich ein kritisches Ungleichgewicht anbahnt. Sogar personalisierte Empfehlungen – etwa für Essverhalten oder Bewegung – wären technisch denkbar. So ließen sich einfache, kostengünstige Strategien entwickeln, die sich auch auf größere Bevölkerungsgruppen anwenden lassen.
Neben solchen Anwendungen sehen die Forscher auch im Einsatz von künstlicher Intelligenz großes Potenzial: Algorithmen könnten individuelle Lebensmuster analysieren, frühzeitig auf bevorstehende Risikoereignisse hinweisen und automatisch Handlungsempfehlungen anstoßen – etwa in Phasen mit erhöhtem Stress oder veränderter Aktivität. Damit ließe sich eine gezieltere Prävention ermöglichen, die nicht auf ständige Kontrolle, sondern auf punktuelle Unterstützung setzt.
Gleichzeitig betonen die Studienautoren, dass Gewichtsentwicklung nicht vollständig planbar ist. Viele Faktoren, die das Körpergewicht beeinflussen, lassen sich kaum direkt steuern – etwa genetische Veranlagung, hormonelle Veränderungen oder persönliche Lebensumstände. Wer sich daher auf stabile Routinen in Ernährung und Bewegung konzentriert, statt ausschließlich auf die Anzeige auf der Waage, kann langfristig einen gesünderen Umgang mit dem eigenen Körpergewicht fördern.

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Fazit
Die Wissenschaftler rund um Daw kommt zu einem klaren Schluss. Wer Übergewicht wirksam vorbeugen will, sollte sein Augenmerk nicht nur auf den Alltag richten, sondern gezielt auf Phasen, in denen die Gefahr eines Kalorienüberschusses besonders groß ist. Fachkräfte im Gesundheitswesen könnten demnach auch Prävention neu denken. Offenbar geht es nicht nur um längerfristige Verhaltensänderungen im Alltag, sondern auch um Strategien für „Krisensituationen“. Die gute Nachricht: Wenn sich eine Gewichtszunahme nur episodisch abspielt, erfordern wirksame Interventionen möglicherweise nur seltene, vorübergehende Verhaltensänderungen. Schon ein bewussteres Verhalten in solchen Phasen – etwa mehr Bewegung oder regelmäßiges Wiegen – könnte helfen, langfristige Gewichtszunahme zu vermeiden.
Die Forscher sprechen sich dafür aus, in künftigen Studien genauer und häufiger das Gewicht, die Ernährung und Bewegung zu messen. So ließen sich Menschen besser erkennen, bei denen das Risiko für Gewichtszunahme besonders hoch ist. Allerdings sollte Folgendes beachtet werden: Nicht jeder Mensch reagiert gleich. Und es ist noch nicht genau erforscht, wie lange der Einfluss solcher besonderen Lebensphasen tatsächlich anhält.