28. Februar 2018, 10:17 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Bis vor wenigen Jahren als überflüssiges Verpackungsmaterial der Muskeln abgetan, haben sich Faszien zum Hauptakteur gemausert. Denn: Inzwischen wissen wir, dass das weiße, wackelpuddingartige Bindegewebsnetz eine tragende Rolle im Körper spielt. Und sogar als wichtigster Verursacher von Rückenschmerzen gehandelt wird. FITBOOK hat mit Faszienforscher Dr. Robert Schleip gesprochen und erfahren, wie das Netz unter der Haut funktioniert und wie wir es fit halten können.
Wann sind Sie zum ersten Mal über den Begriff „Faszien“ gestolpert? Gut möglich, dass es im Fitnessstudio war. Dort setzte in den letzten Jahren ein Boom um die Faszienrolle als Trainingsgerät ein. Schwarze oder orange Rollen von unterschiedlicher Härte, über die man seinen Körper rollt und damit Beine, Po und oberen Rücken massiert.
Den Grundstein für die Popularität der Faszienrolle legte 2001 der US-amerikanische Bewegungstherapeut Tom Myers mit seinem Buch „Anatomy Trains“, in dem er die Theorie der myofaszialen Leitbahnen aufstellte. Die besagt, dass selbst weit voneinander entfernte Muskeln über verschiedene Faszien-Ketten miteinander verbunden sind.
Eine andere führende Rolle in der Faszienforschung nimmt Dr. Robert Schleip ein, Leiter des Fascia Research Project der Universität Ulm und Forschungsdirektor der European Rolfing Association. Außerdem hat er das Buch „Faszien-Fitness: Vital, elastisch, dynamisch in Alltag und Sport“ veröffentlicht.
Was sind Faszien und wozu brauchen wir sie?
„Faszien bilden ein bindegewebsartiges Spannungsnetzwerk, etwa 0,3 bis 3 Millimeter dick, das die Muskulatur umhüllt und durchdringt und dem Körper dadurch Stabilität verleiht“, erklärt Robert Schleip gegenüber FITBOOK. Zu finden seien Faszien vor allem im Bereich der Muskulatur und der Organe. Sie zeichnen sich durch spezielle Eigenschaften aus, wie z.B. hohe Elastizität, hoher Wassergehalt und große Anzahl an Nervenrezeptoren. Kurz gesagt: Faszien halten alles zusammen.
Das Beispiel einer aufgeschnittenen Grapefruit verdeutlicht dieses Prinzip: Ihr Fruchtfleisch ist im Inneren von weißen Häutchen umschlossen, außen sorgt eine festere Haut zusätzlich für Stabilität. Würde man das Fruchtfleisch entfernen, könnte man allein anhand der weißen Haut die Struktur der Grapefruit erkennen. Dasselbe gilt für den menschlichen Körper und Faszien. Allein anhand der Faszien, die ja Muskeln und Organe im ganzen Körper umgeben, könnte man erahnen, wie eine Person aussieht. Also ganz ohne Knochen und Fleisch.
Das Fasziengewebe als eigenes Sinnesorgan
Übrigens: Die speziellen Eigenschaften des Fasziengewebes veranlassen Mediziner inzwischen dazu, es als eigenständiges Organ, ja sogar Sinnesorgan zu betrachten. Neueste wissenschaftliche Hochrechnungen von Dr. Martin Grunwald von der Universität Leipzig ergaben die unglaubliche Anzahl von über 100 Millionen Rezeptoren, die sich in diesem Bindegewebsnetzwerk befinden sollen – damit würden die Faszien das reichhaltigste Sinnesorgan noch vor den Augen darstellen. „Wenn man bedenkt, dass Faszien noch vor zehn Jahren als ein bloßes Verpackungsmaterial galten und bei Operationen häufig achtlos entfernt wurden, kommt diese Entwicklung einer medizinischen Revolution gleich“, so Robert Schleip.
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Wie verklebte Faszien Schmerzen auslösen können
Genau wie Muskeln besitzen Faszien die Fähigkeit zu kontrahieren: „Sie sind in der Lage, sich zusammenzuziehen und wieder zu entspannen“, erklärt Robert Schleip. Muskeln, die nicht häufig beansprucht werden, verlieren an Kraft und Größe – so ähnlich verhält sich das Fasziengewebe bei Nichtbeanspruchung. „Es verliert die Fähigkeit zu gleiten und verklebt letztendlich mit dem umliegenden Gewebe.“ Typisch für verklebte Faszien seien eine verminderte Gleitfähigkeit und ein reduzierter Wassergehalt. „Daraus resultiert ein gestörtes Zusammenspiel von Muskel und Faszie, das Schmerzen auslösen kann.“
Unspezifische Rückenschmerzen
Die größte Faszie im menschlichen Körper ist die große Rückenfaszie (Thoracolumbar Fascia). Kommt es hier in Folge von mangelnder Bewegung oder falscher Belastung zu einer Störung, treten laut unserem Experten häufig Rückenschmerzen auf. Früher wurde angenommen, dass diese Schmerzen durch verspannte Muskeln oder die Bandscheiben ausgelöst werden. Mittlerweile wird die verklebte Rückenfaszie in vielen Fällen für die Entstehung unspezifischer Rückenschmerzen verantwortlich gemacht.
„Rückenschmerz, also Weichteilschmerz, ist zu 90 Prozent eine Schutzreaktion des Gehirns. Beim Training mit der Faszienrolle gehe es vor allem darum, den Patienten vom Opfer zum Täter zu machen – ganz nach dem Prinzip: „Ich besorge es mir selber!“ Robert Schleip ist sich sicher: „In den meisten Fällen lassen sich Rückenschmerzen durch Faszientraining rückgängig machen.“
Was bedeutet Faszientraining?
Unter Faszientraining versteht man alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die Gesundheit des Fasziengewebes zu fördern. Zu den Inhalten eines Faszientrainings gehören federnde Bewegungen (Sprünge), Dehnübungen und die Selbstmassage mit einer Faszienrolle. Um Letztere setzte mit dem Schub, den die Faszien-Wissenschaft in den letzten fünf bis zehn Jahren erlebt hat, ein wahrer Boom ein. Dabei gibt es die Rolle als Trainingsgerät schon seit längerer Zeit: Ihre Ursprünge liegen in der Physiotherapie, und im Pilates kennt man sie als Pilatesrolle.
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Welches Faszientraining ist für mich geeignet?
Ist das fasziale Gewebe „verdickt“, geht es darum, es geschmeidiger zu machen. Das erreicht man mit der Rolle. Als Anwendungsbeispiel nennt Dr. Schleip das sogenannte Läuferknie, bei dem Jogger über Schmerzen in der Knie-Außenseite klagen. „In diesem Fall ist die Außenseite der Oberschenkelfaszie schmerzhaft verdickt“, so der Experte. Eine gezielte Rollenanwendung könne dazu beitragen, die fasziale Festigkeit langsam zu verringern.
Anders sieht es bei vermehrter faszialer Festigkeit in einem Körperbereich aus – Beispiel Cellulite. Dort sei es ratsamer, mit einem langsam steigernden Springseil-Training alle zwei bis drei Tage den eigenen Kollagen-Aufbau „anzukurbeln“.