16. Oktober 2019, 7:43 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Moderne Forschung zeigt, dass Darm und Gehirn permanent kommunizieren und sich wechselseitig beeinflussen. Wie viel haben die Bakterien in unserem Darm beim Ausbruch schwerer Krankheiten wie Depressionen, Alzheimer oder Fettleibigkeit mitzureden? Und wie können wir dieses Wissen nutzen, um möglichst lange gesund zu bleiben?
Über den Darm und seine Inhalte spricht man nicht zwangsläufig gerne. Das macht eine Auseinandersetzung mit dem Thema schwierig. Diese falsche Scheu konnte der Bestseller „Darm mit Charme“ etwas nehmen. Giulia Endres beschreibt in ihrem Aufklärungsbuch bildlich, lustig und transparent, was in unserem Verdauungstrakt so abgeht! Der einst etwas abfällige Blick auf den Darm ist inzwischen in große Bewunderung umgeschlagen. In der Forschung entfaltete sich das faltige Organ in den letzten Jahren zur blühenden Wiese neuer Erkenntnisse. Allen voran: die Darmflora.
Das klingt wie Himmel und Hölle
Diese neue Bewunderung für den Darm liegt an seiner irren Verbindung zum Gehirn. Gerade das Gehirn! Das Organ, bei dem man (zu Recht!) an hochkomplex denkt – und von dem die Wissenschaft lange glaubte, dass es sich um eine hermetisch abgeriegelte Wunderkammer im menschlichen Körper handelt. Das wichtigste und komplizierteste Organ soll also eine Verbindung haben mit dem Darm – in dem doch einfach alles nur… stinkt? Diese zwei sollen ein perfekt eingespieltes Team sein? Das klingt wie Himmel und Hölle. Und doch wird genau hier nicht weniger verhandelt als unser Wohlbefinden – und der Ausbruch schwerer Krankheiten.
Im Darm sind viele einflussreiche Spezialisten am Werk. Neben verschiedenen Darmzellen, Zellen des enterischen Nervensystems (ENS), leben in ihm Billionen von Bakterien. Ihre Gemeinschaft ist die Darmflora, die in der Fachsprache Darmmikrobiom oder intestinale Mikrobiota genannt wird: eine rund 1,3 Kilo schwere Glibbermasse, die wir weder sehen noch fühlen können – mit enormem Einfluss auf unsere Gesundheit.
Durch molekularbiologische Verfahren haben Forscher bisher rund 1000 verschiedene Arten der kleinen Mikroorganismen aufgedeckt. Sie schwimmen in einer Schleimschicht im Inneren des Darms. Die meisten im Dickdarm, etwa eine Billion Mikroben pro Milliliter Darminhalt. Im Darm erfüllen sie die unterschiedlichsten Aufgaben: Sie verdauen solche Nahrungsreste, mit denen der vordere Teil des Verdauungstrakts nichts anfangen konnte; steuern den Stoffwechsel – aber auch Körpergewicht, Immunsystem sowie – das zeigen neue Forschungsergebnisse – die Gesundheit unseres Gehirns.
Die mütterliche Programmierung des Darmmikrobioms
Zu verdanken haben wir unsere Darmflora in erster Linie unseren Müttern. „Die Programmierung des Darmmikrobioms beginnt bei der Geburt, wenn der Säugling auf dem Weg durch den Geburtskanal den Mikroben der Mutter begegnet“, erklärt Dr. Emeran A. Mayer gegenüber FITBOOK. Der Gastroenterologe und Buchautor („Das zweite Gehirn: Wie der Darm unsere Stimmung, unsere Entscheidungen und unser Wohlbefinden beeinflusst“, erschienen im riva Verlag) ist Direktor des Oppenheimer Center for Stress and Resilience an der University of California in Los Angeles und erforscht seit 40 Jahren die Wechselwirkung zwischen Darmmikrobiom und Gehirn. Nach der Geburt beeinflussen Ernährung, Stress, Krankheit und Medikamente der Mutter (v.a. Antibiotika) die Darmflora des Kindes. „Während des ersten Lebensjahres spielt Muttermilch eine wichtige Rolle und die Exposition (also der Kontakt, Anm. d. Red.) gegenüber anderen Haushaltsmitgliedern und Haustieren.“
Eine uns vertraute Wirkung aus der Verbindung zwischen Darm und Gehirn ist das Bauchgefühl: Uns wird beim Gedanken an etwas schlecht, uns liegt eine zu treffende Entscheidung schwer im Magen. „Genauso wie Furcht, Wut oder Trauer im Gesicht abzulesen sind, spiegelt der Darm jede im Gehirn aufkommende Emotion wider“, erklärt Mayer.
Veränderungen in der Darmflora können Angst auslösen
Neue wissenschaftliche Untersuchungen – meist an Mäusen, aber zunehmend auch mit menschlichen Probanden – zeigen, dass unsere Darmmikroben nicht nur mithören, wenn das Gehirn beispielsweise Stress signalisiert. „In Reaktion auf diese Signale des Gehirns produzieren die Darmmikroben Metaboliten, die ihrerseits das Gehirn beeinflussen“, erklärt Mayer. Metaboliten sind für den Stoffwechsel notwendige Botenstoffe, dazu zählen beispielsweise Hormone, Vitamine, Enzyme oder Moleküle. Die Rückmeldungen aus dieser „zirkulären Kommunikation“ können, so Mayer, emotionale Zustände verstärken – und sogar verlängern. Studien hätten gezeigt, dass Emotionen und Reaktionen des Gehirns auf Stress zu den wichtigsten internen Faktoren für die Darmgesundheit zählen.
Dass Veränderungen der Darmflora beispielsweise Angst auslösen könnten, darauf deuten Versuche mit Mäusen hin. Als eine bestimmte Gruppe Antibiotika bekam, vermehrten sich in ihrem Darm einige Mikrobenpopulationen, andere schrumpften. Die Mäuse, die mit Antibiotika behandelt worden waren, waren unternehmungslustiger, verbrachten mehr Zeit in hellen Teilen des Käfigs. Die Forscher schlossen daraus, dass sie weniger ängstlich sind.
Angststörungen, aber auch Depressionen hängen mit einem Mangel von Serotonin im Gehirn zusammen – ein Neurotransmitter, der stimmungsaufhellend wirkt und zahlreiche Körperfunktionen steuert, darunter den Schlaf-Wach-Rhythmus und den Blutdruck. Serotonin kann nicht von außen zugeführt werden, muss also im Körper gebildet werden. Mayer: „Heute wissen wir, dass 95 Prozent des Serotonins in spezialisierten Zellen im Darm gespeichert sind.“
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Das zweite Gehirn
Überbringer der Nachrichten an den verantwortlichen Vagusnerv (steuert im Körper bei Mensch wie Maus alles, woran man nicht denken muss) ist das Nervensystem des Darms, das enterische Nervensystem, ENS. Früher dachte man, dass das ENS dem Gehirn zuarbeitet; inzwischen weiß man, dass es nicht nur die Verdauung komplett autark koordiniert – also den Speisebrei weiterschiebt, Verdauungsenzyme ausschüttet usw. –, sondern dass 90 Prozent der Kommunikation mit dem Gehirn vom ENS ausgehen. „Das ENS interessiert sich nicht nur für die Menge des Essens im Magen, die Größe und Konsistenz der Bissen, die chemische Zusammensetzung der Nahrung“, erklärt Mayer. „Es will auch alles wissen über Entzündungsreaktionen des Darms und die Beschaffenheit und Aktivität der unzähligen Mikroben.“ Dieses brillante Netzwerk besitzt mehr Nervenzellen als das Rückenmark und sammelt seine Informationen auf einer Fläche, die 200 Mal größer ist als unsere Haut. All diese Superlative brachten dem ENS übrigens vor einigen Jahren den Titel „zweites Gehirn“ ein.
Mayer erklärt die Wechselwirkung zwischen Darm und Hirn mittels ENS und Vagusnerv am Beispiel von Stress: „Wenn das Gehirn Stresshormone wie Cortisol und Noradrenalin ausschüttet, schaltet der Darm in den Stressmodus, indem er stärker kontrahiert. Die Darmwände werden durchlässiger, der Dickdarm gibt mehr Wasser und Schleim ab und durch die Magen- und Darmschleimhaut fließt mehr Blut.“ In der Folge bekommen wir beispielsweise Bauchkrämpfe oder Durchfall.
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So eine Darmreaktion ist normal – und wir halten sie aus. Aber was, wenn Stress, Angst, Wut chronisch werden und der Darm durch diese Emotionen dauerhaft aus dem Gleichgewicht gerät?
Negative Emotionen schaden der Darm-Gehirn-Kommunikation. Laut Mayer leiden bis zu 15 Prozent der Weltbevölkerung am Reizdarmsyndrom, haben Verstopfung oder dauerhaft Bauchschmerzen. Erstere leiden häufiger unter Ängsten und Depressionen, weiß man heute. Bei vielen dieser Patienten berichten Studien von einer veränderten Darmflora.
Welche Folgen hat es für unsere Gesundheit, wenn diese Darm-Hirn-Kommunikation gestört ist? Welche Folgen haben die Lebensmittel, mit denen unser Darm in Berührung kommt, für unsere allgemeine Gesundheit? Gar den Ausbruch schwerer Krankheiten des Gehirns?
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Wie der Darm das Gehirn krank macht
Den bisher schlagkräftigsten Beweis für diese These, dass der Darm das Gehirn krank machen kann, lieferte die John Hopkins University School of Medicine in Massachusetts (USA) im Juli 2019: Die Forscher wiesen nach, dass das für die Parkinson-Erkrankung verantwortliche α-Synuclein-Protein aus dem Verdauungstrakt ins Gehirn gelangt. Dazu hatten sie Mäusen das krankmachende Eiweiß in hohen Dosen direkt in die Nerven zwischen Magenschleimhaut und das den Magen umgebende Muskelgewebe injiziert. Nach mehreren Monaten war das Eiweiß in verschiedenen Hirnregionen der Mäuse nachweisbar. Die Forscher sind sich sicher, dass das Eiweiß über den Vagusnerv transportiert wurde.
Laut Mayer ist die Darmflora nicht nur an schweren neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer beteiligt: „Darmmikrobielle Metaboliten wurden als plausible Faktoren für Autismus-Spektrum-Störungen, Fettleibigkeit, Autoimmunerkrankungen und Depressionen identifiziert“, sagt er zu FITBOOK. All diese Erkrankungen hätten in den letzten 60 Jahren weltweit kontinuierlich zugenommen und dürften laut Mayer weiter zunehmen.
Diktieren uns die Bakterien, was wir essen wollen?
Manipuliert die Darmflora unseren Appetit? Laut Mayer ist die These, wonach die Bakterien in unserem Darm unser Belohnungszentrum beeinflussen und beispielsweise eine Rolle bei der Esssucht spielen könnten, nicht so weit hergeholt. So wisse man, dass Menschen, die viele Lebensmittel konsumieren, die reich an künstlichen Zusatzstoffen wie Emulgatoren oder Süßstoffen, sind eher zum Verzehr kalorienreicher Lebensmittel neige. „Sie können die schützende Schleimschicht schädigen und ebnen möglicherweise Metaboliten den Weg in Gehirnregionen, die den Appetit regeln“, erklärt Mayer.Die Details kenne man allerdings noch nicht. „Wir fangen gerade erst an, diese Metaboliten zu messen und ihre genaue Rolle in diesem Prozess zu verstehen.“
So liegen etwa zu den Folgen von Essstörungen auf die Darmflora noch keine guten wissenschaftlichen Daten vor – doch sei es wahrscheinlich, dass „sowohl übermäßige als auch unzureichende Nahrungsaufnahme einen tiefgreifenden, schlechten Einfluss auf die Darmgesundheit haben“ (Stichwort: Cheat Day!).
Forschung noch ganz am Anfang
Sicher ist: Dieses Wissen wird neue Chancen für die Entwicklung wirksamer Therapien eröffnen. Lassen sich Krankheitsprozesse rückgängig machen, indem der Schaden im Darm repariert wird? Mayer ist überzeugt davon, dass wir in den nächsten zehn Jahren dramatische Veränderungen in der Art und Weise sehen werden, wie wir Störungen der Darmflora verstehen, diagnostizieren, verhindern und behandeln werden.
Von großer Bedeutung ist daher erst einmal die Frage: Was können wir vorbeugend tun, um das Ökosystem in unserem Darm gesund zu halten? Mayer bricht es auf die Formel herunter: „Je vielfältiger das Darmmikrobiom, desto gesünder und widerstandsfähiger der Mensch.“ Vielfalt und Fülle im Darm haben Trumpf; Mangel macht krank. „Der Verlust bestimmter Mikroben – wie solcher, die an der Darmschleimproduktion beteiligt sind – wurde mit einem undichten Darm und einer chronischen Immunaktivierung in Verbindung gebracht“, so Mayer weiter.
Wovon hängt diese Vielfalt ab? Schließlich können wir weder sehen noch fühlen, wie viele verschiedene Mikroben in unserem Darm leben. Wir bemerken nur irgendwann die Konsequenzen. „Aus diesem Grund achten die meisten Menschen nicht auf die Art und Weise, wie sie ihre Darmflora füttern und behandeln, bis es zu spät ist“, sagt Mayer. Welche Lebens- und Ernährungsweise empfiehlt der Experte?
Wie „füttert“ man die Darmflora richtig?
Um die Vielfalt der Darmmikrobiota zu vergrößern und die Anfälligkeit für chronische Gehirnerkrankungen zu reduzieren, rät Mayer zu einer überwiegend pflanzlichen Ernährung und viel Entspannung. „Vermeiden Sie viel Fett und viel Zucker oder Zuckerersatz sowie eine ballaststoffarme Ernährung.“ Ansonsten gelten weiterhin die bekannten Tipps der Ernährungsexperten: Fettarmes Fleisch in moderaten Mengen und nicht aus der Massentierhaltung; mehr pflanzliche Ballaststoffe; so wenig industriell verarbeitete Produkte wie möglich.
Um die Darmflora gesund und ihre Vielfalt in schwierigen Zeiten aufrechtzuerhalten, empfiehlt Mayer zudem, regelmäßig fermentierte Produkte zu konsumieren wie Kimchi, Joghurt, Sauerkraut oder Kefir. „Das gilt vor allem, wenn Sie unter Stress stehen, Antibiotika einnehmen oder schon älter sind.“
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Die traditionelle indische Ayurveda-Medizin steht für ein sehr differenziertes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Ernährung und psychischen Zuständen sowie der Rolle des Darms für das Gehirn und die allgemeine Gesundheit. Sie lehrt, dass jegliche Gesundheit (auch die des Gehirns) im Darm beginnt, und nutzt uraltes Ernährungswissen für die Behandlung verschiedenster Krankheiten mit Hilfe spezifischer Diäten. Ein Beispiel hierfür ist der Ansatz, Krankheitsprozesse rückgängig zu machen, indem die Verdauung des Patienten verbessert wird. Wer sich näher dafür interessiert, dem legen wir unser Interview mit der Neurologin, Ayurveda-Expertin und Bestseller-Autorin Dr. Kulreet Chaudhary („Wie neu geboren durch modernes Ayurveda“) ans Herz. Darin erklärt sie, wie man ganz konkret sein Darmmikrobiom umprogrammieren kann.
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Fazit
Moderne Forschung zeigt einmal mehr, dass in unserem Organismus alles mit allem zusammenhängt: Darm und Gehirn tauschen sich permanent aus und beeinflussen sich gegenseitig. Störungen auf der mächtigen Darm-Hirn-Achse werden inzwischen mit dem Ausbruch schwerer Krankheiten in Verbindung gebracht. Dazu zählen Alzheimer, Parkinson, Autismus, Depressionen, Fettleibigkeit und Autoimmunerkrankungen. Neue Forschung zeigt, dass die Bakterien in unserem Darm unsere Stimmung, unser Verhalten und Krankheitsprozesse steuern können. Und dass unser größter Hebel wohl eine gesunde Lebens- und Ernährungsweise ist.