13. Mai 2020, 15:40 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat in Bezug auf ein besseres regionales Pandemie-Management in der Corona-Krise zwei neue, spezielle Kennzahlen ins Feld geführt: die länderspezifische Belastungsgrenze und die effektive Vorwarnzeit. Was dahinter steckt und wie diese Werte für Ihr eigenes Bundesland aussehen, lesen Sie hier.
Länderspezifische Belastungsgrenze für bessere Einschätzung des Pandemieverlaufs
Am 06. Mai einigten sich Bund und Länder auf das, was sich viele seit Wochen zurückwünschen – ein Stück mehr Normalität und Alltag durch einige Lockerungen der Corona-Beschränkungen. Was bei der Bund-Länder-Konferenz jedoch auch beschlossen wurde, ist ein Sicherheitsmechanismus, um das Gesundheitssystem bei erneut ansteigenden Fallzahlen vor einer Überlastung zu schützen. Diese Interventionsgrenze sieht Folgendes vor: Werden in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt innerhalb von 7 Tagen mehr als 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner gemeldet, müssen dort unverzüglich wieder entsprechende Beschränkungen durch die zuständigen Landesbehörden in Kraft treten.
Vor diesem Hintergrund hat nun das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zwei spezielle Kennzahlen entwickelt, um den Pandemieverlauf auf Landesebene besser und gezielter steuern zu können: eine länderspezifische Belastungsgrenze sowie eine effektive Vorwarnzeit.
Warum die Reproduktionszahl R aktuell nicht genug Aussagekraft hat
Die Größe, die wohl bislang am meisten im Fokus für die Einschätzung der akuten Corona-Lage in Deutschland stand, ist die täglich aktualisierte Reproduktionszahl R. Sie gibt an, wie viele weitere Menschen ein Corona-Infizierter im Durchschnitt ansteckt, und ist damit ein Indikator für die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus.
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Warum dieser Wert alleine allerdings beim aktuellen Verlauf der Pandemie zu kurz greift, erklärt der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried in einer Pressemitteilung. „Der R-Wert ist bei niedrigen Infektionszahlen schwer zu interpretieren, da er stark auf kleine Veränderungen in der Zahl der Neuinfektionen reagiert“, so von Stillfried. Das Robert-Koch-Institut (RKI) habe darauf nun bereits mit einer Änderung der Berechnungsmethode reagiert. Diese Änderung sieht vor, lokale „Corona-Hotspots“, also vereinzelte größere Ausbrüche, herauszurechnen.
Auch die einheitliche Interventionsgrenze ist nicht umfassend genug
Doch auch die einheitlich fixierte Interventionsgrenze der Bund-Länder-Konferenz sei laut von Stillfried nicht umfassend genug. So berücksichtige sie vor allem nicht, wie stark die regionalen Kapazitäten der medizinischen Versorgung bei ansteigenden Fallzahlen beansprucht werden könnten. Aus diesem Grund habe das Zi nun ein erweitertes Modell entwickelt, um die zu erwartende Ausbreitung des Covid-19-Virus besser regionalisiert überwachen zu können.
Grundlage seien zwei spezielle Kennzahlen für das Pandemie-Management der Länder: zum einen eine länderspezifische Belastungsgrenze des Gesundheitswesens und zum anderen die sich daraus bei steigenden Fallzahlen ergebende Vorwarnzeit bis zum Erreichen dieser Belastungsgrenze. „Diese Kennzahlen sollen helfen, die Dringlichkeit weitergehender Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu bewerten und gegenüber Grundrechtseinschränkungen abzuwägen“, erläutert der Zi-Vorsitzende.
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So berechnet sich die länderspezifische Belastungsgrenze
Berechnet wird die länderspezifische Belastungsgrenze aus drei Faktoren:
- die für die Versorgung von Covid-19-Patienten verfügbaren Intensivbetten (derzeit 25 Prozent aller registrierten Intensivplätze)
- dem prozentualen Anteil der Covid-19-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen (aktuell fünf Prozent aller gemeldeten Fälle)
- sowie der durchschnittlichen Behandlungsdauer der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen (zehn Tage)
Diese Belastungsgrenze lässt sich damit auch für Deutschland im Gesamten berechnen. So kann man auch den Unterschied zur einheitlichen Interventionsgrenze gut verdeutlichen. Am 7. Mai 2020 standen laut dem Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) 32.828 Intensivbetten in Deutschland zur Verfügung. Daraus ergibt sich eine rechnerische Belastungsgrenze des Gesundheitswesens an diesem Tag von 16.414 täglichen bundesweiten Neuinfektionen. Die fixierte Interventionsgrenze liegt hingegen bei 5.930 täglichen Neuinfektionen, entspricht also nur 36 Prozent der tatsächlichen rechnerischen Belastungsgrenze.
Maßgeblich sind auch die verbleibenden Vorwarnzeiten
Die zweite entwickelte Kennzahl bezeichnet das Zi als effektive Vorwarnzeit. Sie soll darüber Aufschluss geben, wie viel Zeit tatsächlich bleibt, um im Fall von steigenden Neuinfektionen durch Interventionsmaßnahmen das Erreichen der rechnerischen Belastungsgrenze des Gesundheitswesens zu vermeiden.
Berechnet wird sie aus der Differenz zwischen der länderspezifischen Belastungsgrenze und der aktuellen prozentualen Ausschöpfung dieser durch die bundesweite, einheitliche Interventionsgrenze (z. B. in Baden-Württemberg: 42,2 Prozent; im Saarland: 20,2 Prozent). Je kleiner dieses Verhältnis, desto kürzer folglich die verbleibende Zeit, bis man die Belastungsgrenze der intensivmedizinischen Ressourcen im jeweiligen Bundesland erreicht.
Für die Berechnung berücksichtigt werden zusätzlich pauschal prognostizierte Zeitverluste bis zum Wirksamwerden von Maßnahmen mit der Annahme, dass sich die Vorwarnzeit dadurch um 21 Tage verkürzt. Hier zeigen sich große Unterschiede auf Länderebene. So würde die effektiv verbleibende Zeit im Fall der Fälle in einigen Bundesländern zwei bis drei Wochen, in anderen hingegen nur noch ein bis drei Tage betragen.
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Länderspezifische Belastungsgrenze und Vorwarnzeit helfen, notwendige Interventionen zu bewerten
„Unsere Modellbetrachtung zeigt, dass es notwendig ist, neben der Interventionsgrenze die rechnerische Belastungsgrenze und die voraussichtlich verbleibende Zeit bis zum Erreichen dieser Belastungsgrenze zu berücksichtigen“, erklärt Dr. von Stillfried in der Mitteilung weiter. Dies könne helfen, die Anzahl und Art der notwendigen Maßnahmen angemessen zu bewerten.
„Da den Ländern die Kompetenz für Entscheidungen über Interventionen übertragen ist, und die Ausstattung mit intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten relativ zur Bevölkerungsdichte regional unterschiedlich ist, ist es sinnvoll, die rechnerische Belastungsgrenze nach Ländern zu berechnen und zu vergleichen, in welchem Verhältnis die einheitliche fixierte Interventionsgrenze zur länderspezifischen Belastungsgrenze steht“, erläutert von Stillfried.
Weiter macht er deutlich: „Um Maßnahmen, die mit tiefgreifenden Einschränkungen für die Bevölkerung einhergehen, abzuwägen, braucht es klare, epidemiologisch fundierte Grenzwerte, die der Politik einen sicheren Kompass beim Pandemie-Management an die Hand geben, um eine drohende Überlastung des Gesundheitswesens auszuschließen, wenn die Neuinfektionen wieder ansteigen sollten.“
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Aktuelle Belastungsgrenzen und Vorwarnzeiten der Bundesländer im Überblick
Allgemein seien Bund und Länder nach Einschätzung des Zi mit der Festlegung der einheitlichen Interventionsgrenze auf einem im Verhältnis zur rechnerischen Belastungsgrenze vergleichsweise niedrigen Niveau von Neuinfektionen (36 % der Belastungsgrenze) vorsichtig vorgegangen. In der Pressemitteilung wird dieses Vorgehen aber als sinnvoll erachtet. So gebe es zwar grundsätzlich eine Reserve nach oben, diese sei aber je nach Bundesland unterschiedlich groß. Daher bestehe auch weiterhin die Gefahr, dass die Länder unter Umständen sehr schnell erneute Auflagen veranlassen müssen.