10. Juli 2021, 17:26 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Die strengen Pandemie-Regeln sind aufgeweicht. Doch nach Monaten, in denen Kontakte eingeschränkt wurden, tun sich nicht alle Menschen leicht mit den wiedergewonnenen Möglichkeiten. Im Gegenteil: Manche haben Angst vor den neuen Corona-Lockerungen. Experten nennen dieses Phänomen Cave-Syndrom – und erklären, was dahintersteckt.
Maske tragen, Abstand halten und soziale Kontakte weitgehend vermeiden: So lauteten monatelang die wichtigsten Gebote zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie. Vorsicht ist zwar noch immer angebracht, doch dank Lockerungen kann man wieder mehr Dinge machen: Freunde treffen im Biergarten zum Beispiel. Nur: Viele Menschen tun sich nach Monaten der Kontaktarmut noch schwer mit sozialem Miteinander. Das sei auch kein Wunder, sagen Fachleute. Für das Phänomen der sozialen Scheu in der Corona-Pandemie gibt es einen Begriff: Cave-Syndrom.
Übersicht
Cave-Syndrom als Ergebnis antrainierter Angst vor Corona
Was steckt also hinter dem Begriff Cave-Syndrom? Das englische Wort „cave“ bedeutet Höhle. Die Menschen haben Angst vor den Corona-Lockerungen – und bleiben deshalb lieber in ihrer Höhle, statt rauszugehen. „Das Cave-Syndrom klingt wie so eine Erkrankung“, sagte der Psychiater Claas-Hinrich Lammers vor Wochen im „Deutschlandfunk Kultur“. Doch es sei erst mal eine vollkommen normale Erscheinung.
Der Grund dafür ist eine antrainierte Angst vor dem Virus. Wir haben gelernt, dass Kontakte mit anderen potenziell gefährlich sind, weil wir uns dabei anstecken könnten. Das hatte und hat den Zweck, dass wir vorsichtig sind. Es wäre ein Wunder, sagte Lammers, wenn wir die antrainierte Angst sofort wieder ablegen könnten. Er spricht mit Blick auf das Cave-Syndrom von einer „Anpassungsverzögerung“. Viele Menschen können nicht sofort wieder zum früheren geselligen Normalzustand zurückkehren.
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Wem fällt die Rückkehr zur Normalität schwer – und was ist in diesem Fall zu tun?
Wobei das Tempo der Anpassung durchaus auch eine Typ-Frage ist. „Manche können gar nicht genug machen, um all das Verpasste nachzuholen“, sagt Sven Steffes-Holländer, der als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Heiligenfeld Klinik Berlin arbeitet. „Andere haben es sich in der Corona-Höhle gemütlich gemacht. Für sie hat es einen Preis, wenn sie nun plötzlich wieder in die Öffentlichkeit gehen und mit ihren Unsicherheiten umgehen müssen.“
Das Motiv muss also nicht immer Angst vor Ansteckung sein. Manche Menschen fühlen sich zum Beispiel in der Einsamkeit einfach wohler. Und so gibt es jene, denen es mühelos gelingt, ihre soziale Scheu wieder abzulegen, während andere das mehr Kraft kostet – oder sie diesen „Höhlenzustand“ gar lieb gewonnen haben. Bei manchen Menschen mit einer gewissen Vorprägung in diese Richtung kann sich durch die Monate der Beschränkungen jedoch auch eine krankhafte Angst vor Kontakten herausgebildet haben. In dem Fall ist psychotherapeutische Hilfe empfehlenswert.
Doch im Allgemeinen besteht kein großer Grund zur Sorge: Bei vielen Menschen dürfte sich das, was man im Zuge der Corona-Lockerungen nun Cave-Syndrom nennt, nach und nach legen. So wie das Akzeptieren und Umsetzen der Vorsichtsmaßnahmen ein Lernprozess war, gilt es nun, wieder zu einer Art Normalität zurückzufinden. „Ängste kann man verlernen“, sagte Psychiater Lammers. Und zwar, indem man sich in die Situationen begibt, die einen ängstigen. Und man merkt, dass es doch eigentlich gar nicht so schlimm ist.
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Mittelweg zwischen Vorsicht und neuer Leichtigkeit gefragt
Nur: Überstanden ist die Krise ja noch nicht. In Deutschland sind die Zahlen zwar momentan niedrig, in anderen europäischen Ländern aber steigen sie. Die besonders ansteckende Delta-Variante des Virus greift um sich und manche Experten blicken mit Sorge auf den Herbst. Die Frage ist also: Wie findet man einen Mittelweg zwischen noch angebrachter Angst und einer gewissen neuen Leichtigkeit?
Fühlt man sich unsicher mit einer Situation, ist es ratsam, das konkret zu thematisieren. „Das verschafft Erleichterung“, sagt Sven Steffes-Holländer. Wer nicht zu den Menschen gehört, die jetzt alles nachholen wollen, sollte nichts überstürzen. Zum Beispiel lieber erst mal mit jemandem spazieren gehen als ein Treffen in großer Runde.
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Das Problem ist: Absagen fällt oft schwer. Man möchte ja niemanden vor dem Kopf stoßen, indem man eine Einladung zum Treffen ausschlägt. Hier helfen Transparenz und Ehrlichkeit. Man sollte klar sagen, dass man noch etwas Zeit braucht, aber sich prinzipiell gerne mit dem anderen treffen würde, rät Steffes-Holländer. Wer weiterhin Interesse an einer freundschaftlichen Beziehung hat, sollte das auf jeden Fall auch so signalisieren – und den anderen nicht abbügeln.
Der Experte nennt diese Zeit gerade „eine gesellschaftliche Trainingsphase als Übergang zur Normalität“. Das betrifft auch die Rituale im persönlichen Umgang, von denen viele längst nicht mehr so klar und eingeübt sind wie früher: Schüttelt man sich jetzt die Hand? Gibt man sich die Faust? Was ist, wenn der andere auf mich zukommt und mich umarmen will – zur Seite springen?
Der Umgang mit sozialer Unbeholfenheit
Sowas kann zu Situationskomik führen, aber auch zu Unsicherheiten. Manche Menschen meiden Treffen mit anderen genau deshalb womöglich ganz, wann immer es geht. Weil sie sich unsicher sind, wie sie sich angemessen verhalten sollen. Soziale Unbeholfenheit nennen Fachleute dieses Phänomen. Doch sie wird sich wieder legen.
Denn die Fähigkeiten zur sozialen Interaktion, also zum Umgang miteinander, können verkümmern – so wie Muskeln. Und so wie bei den Muskeln gilt auch hier: „Das muss man immer wieder üben“, sagt Steffes-Holländer. „Das ist wie Therapie.“ Mit etwas Training ist das Cave-Syndrom also zu bewältigen – und man kann die Corona-Lockerungen in vollen Zügen genießen.
Mit Material von dpa