16. Januar 2025, 16:01 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Der Body-Mass-Index (BMI) steht schon seit Jahren in der Kritik. Denn er beschreibt lediglich das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße, was viele andere Faktoren wie etwa die Muskelmasse und den Fettanteil außen vor lässt. Nun fordern Experten weltweit, den Fokus weg vom Body-Mass-Index (BMI) hin zu einer differenzierteren Betrachtung zu lenken. Diese Veränderung könnte nicht nur die Diagnostik verbessern, sondern auch den Zugang zu individuell zugeschnittenen Behandlungen erleichtern.
Ein zu hoher Fettanteil kann ernsthafte Gesundheitsrisiken wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder sogar Krebs zur Folge haben. Dennoch bleibt die Diagnostik häufig oberflächlich, da man den Body-Mass-Index (BMI) als alleiniges Kriterium verwendet. Dieser Ansatz ist stark umstritten, weil der BMI nicht zwischen Fett- und Muskelmasse unterscheidet und keinen Einblick in die gesundheitliche Verfassung gibt. Eine internationale Kommission aus 58 Experten – darunter auch welche aus Deutschland, Österreich und der Schweiz – hat deshalb jetzt neue Kriterien entwickelt, die den medizinischen Umgang mit Adipositas grundlegend verändern könnten. Ziel ist eine differenzierte Diagnostik. Doch welche konkreten Veränderungen bringt diese neue Definition mit sich – und wie wirkt sich das auf die Patienten und das Gesundheitssystem aus?
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Übersicht
Richtige Einordnung von Adipositas
Die Lancet-Kommission hat sich mit der dringenden Aufgabe befasst, die herkömmliche Definition und Diagnose von Adipositas mit dem BMI zu überarbeiten.1 Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass der BMI allein als Maßstab für Übergewicht unzureichend ist, da er weder zwischen Fett- und Muskelmasse unterscheidet noch die individuelle Gesundheit korrekt abbildet. Bisher galten folgende Werte:
BMI | Einordnung des BMIs |
---|---|
< 18,5 | Untergewicht |
18,5 bis 24,9 | Normalgewicht |
≧ 25 | Übergewicht |
25 bis 29,9 | Präadipositas |
30 bis 34,9 | Adipositas Grad I |
35 bis 39,9 | Adipositas Grad II |
≧ 40 | Adipositas Grad III |
Ziel der Kommission war, Adipositas als komplexe Erkrankung zu betrachten, die über ein rein zahlenbasiertes System hinausgeht und fordert, dass Fettansammlungen – insbesondere am Bauch – offiziell in die Adipositas-Diagnose miteinbezogen werden. Dennoch solle der BMI laut den Experten weiterhin ein nützliches Screening-Instrument bleiben, um einen ersten Anhaltspunkt zu liefern.2
Dafür definiert die Kommission Adipositas neu als „eine systemische chronische Krankheit“, die durch überschüssiges Fettgewebe ausgelöst wird und zu Funktionsstörungen in Organen, Geweben oder der gesamten körperlichen Verfassung führen kann.
BMI soll mit weiteren Messungen ergänzt werden
Die aus 58 Experten bestehende Lancet-Kommission erarbeitete ihre Neuerung mithilfe von umfassenden Literaturrecherchen und evidenzbasierten Analysen. Sie legten dabei ein besonderes Augenmerk auf die multifaktoriellen Ursachen von Adipositas, die weit über Ernährung und Bewegung hinausgehen und genetische, psychologische sowie umweltbedingte Faktoren umfassen.
Zentrales Element war die Entwicklung von diagnostischen Kriterien, die Adipositas als Krankheit besser definieren. Diese Kriterien umfassen unter anderem Messungen des Körperfettanteils in Kombination mit organbezogenen Funktionseinschränkungen oder erheblichen Beeinträchtigungen des Alltags.
Für Menschen mit einem BMI über 40 wird Adipositas auch weiterhin direkt diagnostiziert, ohne zusätzliche Fettmessungen.
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Neue Einordnung von Adipositas
Die Kommission stellte eine neue Definition von Adipositas vor, die über die bisherige BMI-Grenze von 30 hinausgeht. Die wesentlichen Ergebnisse sind:
- Neue Klassifikation: Adipositas wird in „präklinisch“ (kein Organschaden, aber erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen) und „klinisch“ (mit organbezogenen Schäden und/oder Einschränkungen des Alltags) unterteilt.
- Diagnosekriterien: Klinische Adipositas liegt vor, wenn entweder eine eingeschränkte Organfunktion (z. B. Herz, Niere) oder eine erhebliche Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten (z. B. Mobilität, Selbstversorgung) festgestellt wird.
- Ergänzende Diagnostik: Der BMI bleibt ein nützliches Screening-Instrument, reicht jedoch nicht aus. Stattdessen müssen Messungen wie der Taillenumfang, Taille-Hüfte-Verhältnis oder der Körperfettanteil hinzugezogen werden, um überschüssiges Fett zu bestätigen.
- Kinder und Jugendliche: Zum ersten Mal definierte man spezifische diagnostische Kriterien für junge Menschen, um gesundheitliche Probleme frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
Die Empfehlungen der Kommission finden breite Zustimmung und wurden von 76 internationalen Organisationen, darunter wissenschaftliche Gesellschaften und Patientenvertretungen, unterstützt.
Potenzial für Prävention, Diagnose und Behandlung
Die Ergebnisse der Lancet-Kommission haben das Potenzial, die Behandlung und Prävention von Adipositas grundlegend zu verändern. Für Betroffene bedeutet die neue Definition mehr Präzision bei der Diagnostik und damit individuellere Behandlungsansätze. Menschen mit klinischer Adipositas könnten schneller Zugang zu Therapien erhalten, während bei präklinischer Adipositas präventive Maßnahmen im Vordergrund ständen, um den Übergang in die Krankheitsphase zu verhindern.
Gesundheitspolitisch könnte die differenzierte Betrachtung von Adipositas langfristig Kosten senken, da man unnötige Eingriffe vermeiden und präventive Ansätze stärken könnte. Die Kommission betont zudem die Bedeutung, Stigmatisierung und Vorurteile gegenüber Menschen mit Adipositas abzubauen – ein wesentlicher Schritt, um die Akzeptanz und Effektivität neuer Strategien zu fördern.
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Kritik
Die neue Definition von Adipositas ist ein bedeutender Schritt nach vorne, stößt jedoch nicht überall auf Zustimmung. Kritiker warnen, dass die komplexeren Diagnosekriterien dazu führen könnten, dass weniger Menschen eine Adipositas-Diagnose und damit Zugang zu Therapien erhalten. Insbesondere psychologische Begleiterkrankungen könnte man dabei übersehen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Umsetzbarkeit in der Praxis. Die differenzierte Diagnostik erfordert zusätzliche Ressourcen und Schulungen für Ärzte, was speziell in Ländern mit weniger ausgebauten Gesundheitssystemen eine Herausforderung darstellen könnte. Gleichzeitig bleibt unklar, wie stark man geschlechtsspezifische und ethnische Unterschiede bei der Fettverteilung in den neuen Kriterien berücksichtigt.