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Expertin erklärt

Binge-Eating – Symptome der häufig unerkannten Essstörung

Bei einer Binge-Eating-Störung kommt es zu Kontrollverlust im Essverhalten. Die Betroffenen konsumieren Unmengen an Nahrung in kurzer Zeit.
Bei einer Binge-Eating-Störung kommt es zu Kontrollverlust im Essverhalten. Die Betroffenen konsumieren Unmengen an Nahrung in kurzer Zeit. Foto: Getty Images
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Julia Freiberger
Lisa Neumann,

21. Oktober 2023, 8:09 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten

Das Binge-Eating ist eine der häufigsten Essstörungen in Deutschland. Leider ist sie schwer zu erkennen, weiß Dr. Elisabeth Rauh, die sich als Fachärztin für Psychosomatik seit 30 Jahren mit dem Krankheitsbild auseinandersetzt. FITBOOK sprach mit ihr über Ursachen, Auslöser, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten.

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Jeder hat bestimmt mal mehr gegessen, als es eigentlich gut ist. Bei krankhaften Essanfällen jedoch, ist die Situation anders: Eine Pizza, zwei Packungen Chips und ein Schokoriegel – die Betroffenen von Binge-Eating verlieren die Kontrolle über ihr Essverhalten und nehmen große Mengen an Nahrungsmitteln zu sich.

Binge-Eating: Was ist das?

Binge-Eating lässt sich aus dem Englischen mit „Gelage“ übersetzen, was so viel heißt wie „exzessives, übermäßiges Essen und Trinken“. Dabei kommt es bei der Essstörung zu regelmäßigen, unkontrollierbaren Essanfällen. Es werden also große Nahrungsmengen innerhalb kurzer Zeit zu sich genommen, wobei häufig die Kontrolle über das Essen verloren wird. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage mit dem Essen aufzuhören.

Was ist besonders problematisch?

Die Essattacken können unabhängig vom Hungergefühl auftreten. Manchmal essen die Betroffenen dann über Stunden hinweg und können auch nicht mehr beurteilen, wann der Essanfall überhaupt begonnen oder aufgehört hatte. Der Prozess des Essens erfolgt dabei sehr hastig und es wird erst aufgehört, wenn man sich unangenehm voll fühlt. Die Betroffenen essen allerdings nicht mit Genuss. Stattdessen leiden sie unter den Essanfällen, die zudem von negativen Gedanken und Gefühlen begleitet werden. Häufig sind die Menschen, die an Binge-Eating leiden, deprimiert, ekeln sich vor sich selbst und haben Schuldgefühle.

Expertin: „Erst der schmerzende Bauch stoppt den Essanfall“

Dr. Elisabeth Rauh ist Chefärztin des Fachzentrums Psychosomatik der Schön Klinik Bad Staffelstein und beschäftigt sich seit 30 Jahren mit Essstörungen. Die Problematik der Binge-Eating-Disorder (kurz BED) beschreibt sie im Gespräch mit FITBOOK so: „Der oder die Betroffene möchte aufhören, alles in sich hineinzuschlingen, schafft es aber nicht.“ Die Essanfälle fänden eigentlich immer in der Heimlichkeit statt. Während der Attacken seien die Betroffenen wie betäubt. Erst der schmerzende Bauch, ein übervoller Magen, stoppe den Essanfall. „Für die Betroffenen ist es eine würdelose Inszenierung“, meint die Psychotherapeutin.

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Kriterien für die Diagnose Binge-Eating-Disorder

Das Fachzentrum für gestörtes Essverhalten in Bad Oeynhausen definiert zwei Kriterien für die Diagnose Binge-Eating-Disorder1:

  • mindestens zwei wöchentliche Essanfälle über die Dauer von einem halben Jahr
  • sowie zu schnelles Essen bis zum unangenehmen Völlegefühl

Menschen mit einer Binge-Eating-Störung haben das Gefühl für Sättigung verloren. Sie essen dadurch zu viel, ungesund und aus den falschen Motiven, wie die Selbsthilfeorganisation ANAD (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) berichtet.2

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Welche Symptome treten beim Binge-Eating auf?

Neben dem Gefühl, während der Essattacken die Kontrolle zu verlieren, kommt hinzu, dass diese mindestens einmal pro Woche (innerhalb von drei Monaten) auftreten. Folgende Symptome könnten darauf hindeuten, dass man an Binge-Eating erkrankt ist:

Man isst in kurzer Zeit große Mengen

Die Betroffenen essen häufig schneller als nicht essgestörte Menschen in der Zeit essen würden. Das Essen wird hinein geschlungen, sodass in sehr kurzer Zeit Unmengen an Nahrung aufgenommen werden.

Essen, bis man nicht mehr kann

Das Problem kennt sicherlich jeder, wenn man mal eine Pizza auf dem Teller vor sich liegen hat und einfach nicht mehr kann. Allerdings wird beim Binge-Eating „nicht mehr können“ so ausgedehnt, dass die Betroffenen erst aufhören zu essen, wenn sie ein unangenehmes Völlegefühl haben.

Kein Hungergefühl

Die Essattacken beim Binge-Eating werden zum Teil durch negative Emotionen verursacht – ein schlechter Tag reicht aus, um mit einem Stück Schokolade oder einer Tüte Chips anzufangen und nicht aufhören zu können. Und das, obwohl man nicht mal hungrig ist.

Verheimlichen

Ein weiteres Symptom ist es, dass die Betroffenen Angst haben vor Anderen zu essen und sich deswegen verstärkt zurückziehen. Aus Scham wird gemeinsames Essen vermieden.

Schuldgefühle

Die Betroffenen leiden sehr stark unter ihrer Esssucht. Sie werden von einem negativen Selbstwertgefühl, Schuldgefühlen und Depressionen begleitet.

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Ursachen und Auslöser von Binge-Eating

Es gibt nichts, was so leicht ist, wie essen. Essen ist einfach und die Belohnung kommt sofort. Durch den Zuckergehalt in der Nahrung werden Botenstoffe im Körper freigesetzt und führen zur Entspannung und Trost. Mithilfe des Essens versuchen die Betroffenen Leere, Anspannung, Kummer, Einsamkeit oder unangenehme Stimmungen in den Griff zu bekommen.

Man versucht mit Essen das Bedürfnis nach Wärme, Lust und Geborgenheit zu stillen. Teilweise werden die Essattacken dann als entspannte Auszeit aus dem Alltag betrachtet. Leider gibt es keine einheitliche Erklärung dafür, wie Binge-Eating genau entsteht. Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle und können sich gegenseitig beeinflussen.

„Die BED kann genetische oder auch familiäre Gründe haben“, erläutert Rauh.  Auch Bemerkungen über die Figur, Stress am Arbeitsplatz, Mobbing oder Traumatisierung seien in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Die tatsächlichen Auslöser seien dann jedoch meist Diäten.

Der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel – wie in den meisten Diäten üblich – führe zu Heißhunger. Von da sei es dann bei manchen nicht mehr weit zum ersten (unkontrollierten) Fressanfall, führt die Ärztin aus. Passend dazu hat die Universität Michigan übrigens 2015 herausgefunden, dass stark verarbeitete Lebensmittel mit einem hohem Salz-, Zucker- und/oder Fettgehalt Heißhunger verstärken und Fressattacken auslösen können.3 Pizza, Eis, Schokolade, Chips, Kekse und Pommes hatten in einer entsprechenden Studie bei den Probanden die stärkste Wirkung.

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Weitere mögliche Ursachen

Individuell

  • Keine Konfliktbewältigung
  • Kaum vorhandene Impulskontrolle
  • Negatives Selbstwertgefühl

Familiär

  • Vorbilder für riskantes Essverhalten
  • Wenig oder kaum Unterstützung durch andere Menschen

Körperlich

  • Erhöhter BMI
  • Häufige Diäten

Soziokulturell

  • Bewusster Vergleich mit anderen Menschen
  • Mobbing
  • Unsicherheiten mit sich selbst

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Welche Folgen hat das Binge-Eating?

Menschen, die an der Essstörung leiden, sind auch häufig von psychischen Beschwerden oder Erkrankungen betroffen. Dazu zählen beispielsweise:

  • Depressionen und Angststörungen
  • niedriges Selbstwertgefühl
  • Schlafprobleme
  • Stress
  • Konflikte durch zwischenmenschliche Probleme
  • erhöhtes Suizidrisiko

Aufgrund dessen, dass die Binge-Eating-Störung meistens mit Adipositas und Übergewicht einhergeht, können auch körperliche Erkrankungen auftreten wie:

Unterschiede zu Bulimie und Adopisitas

Vor 20 Jahren wurde Binge-Eating noch als passive Bulimie bezeichnet. In beiden Krankheiten befallen die Betroffenen Essanfälle. Bulimiker greifen in der Folge zu unangemessenen Gegenmitteln, Binge-Eater laut der Expertin eher nicht – wobei es natürlich auch Mischformen gibt. Binge-Eater, die beispielsweise exzessiv Sport treiben, um die aufgenommenen Kalorien loszuwerden, oder Abführmittel missbrauchen.

In der Regel führe eine BED aber zu Übergewicht – was sie irgendwann wiederum leicht verwechselbar machen kann mit einer Adipositas. Binge-Eating kann zu Fettleibigkeit (samt ihren bekannten Langzeitfolgen Arthritis, Arthrose, Gicht und hoher Blutdruck) führen; aber nicht jeder adipöse Mensch hat eine BED. Wie man die Krankheitsbilder dennoch unterscheidet, erklärt Rauh im Gespräch mit FITBOOK: „Das Schlüsselwort ist Kontrollverlust. Es gibt Menschen, die sind einfach von Veranlagung aus dick, es gibt welche, die essen gerne und bewegen sich weniger – aber sie haben die Kontrolle.“ Auch wenn diese Menschen an Weihnachten ein paar mehr Kekse essen, machen sie das mit Genuss. „Die Person sitzt nicht allein auf dem Fußboden, reißt die Packung Kekse auf und schlingt alle in sich hinein.“

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Essstörungen

„Von 1000 Menschen haben etwa 30 bis 50 eine Essstörung, schreibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Meist treten die Störungen zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr auf. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.“

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Je nachdem wie schwer die Erkrankung ist, gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten.

  • Ambulante Behandlung: In dieser bleiben die Patienten zu Hause und werden in der Praxis ihrer Ärzte behandelt.
  • Stationäre Behandlung: Sie ist nötig, wenn eine akute Gesundheitsgefahr besteht, oder wenn der Betroffene etwas Abstand von seiner gewohnten Umgebung braucht, damit man die Krankheit besiegen kann.
  • Tagesklinische Behandlung: In der teilstationären Behandlung befinden sich die Patienten tagsüber in der Klinik und abends wieder zu Hause.

Allerdings kann es sein, dass obwohl eine erfolgreiche Behandlung vorliegt, es trotzdem zu Rückfällen kommen kann. Als eine längerfristige Begleitung wird aus diesem Grund eine Therapie empfohlen. Besonders wirksam ist die kognitive Verhaltungstherapie. Sie setzt vor allem auf das Erkennen und Beseitigen der Auslöser von Essanfällen an.

Betroffene können gute Fortschritte in der Psychotherapie machen

Menschen mit einer Binge-Eating-Disorder kann in der Psychotherapie geholfen werden – auch wenn die Essstörung häufig nicht Hauptgrund der Therapie ist. Meist seien es Ängste, posttraumatische Belastungsstörungen oder eine Depression, die die Menschen zu ihr führen. „Erst dann merkt man: Da ist auch eine Essstörung vorhanden“, berichtet Rauh aus ihrem Alltag. Das läge auch daran, dass BED noch nicht so ausführlich untersucht wurde wie Bulimie oder Magersucht. Einfach, „weil es verdeckt sein kann“, so Rauh.

Hat sie das Problem dann erkannt, geht es darum, Auslöser-Situation der Anfälle herauszufinden, ein normales Essverhalten aufzubauen und Heißhungerattacken zu vermeiden. In einem Drittel der Fälle funktioniert dies nach Ansicht der Expertin; ein Drittel gehe nach einer Therapie, die sich mitunter über Jahre hinziehen kann, besser mit der Krankheit um; und ein Drittel schaffe es nicht, die BED zu überwinden.

Viele Betroffene zögern aus Angst vor Stigmatisierung oder Scham die Suche nach professioneller Hilfe hinaus. Jedoch kann eine frühzeitige Therapie bereits dabei helfen nicht nur die Symptome zu lindern, sondern auch schon zu heilen.

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Kritisch in diesem Zusammenhang zu sehen: „Cheat Day“

Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang das, was Fitness-Influencer in den Sozialen Medien als Cheat Day abfeiern. Einmal in der Woche sündigen und essen, worauf man Lust hat. Man könnte auch sagen: Es sind gewählte Tage, an denen Fitness-Fans sich den Bauch vollschlagen. Für Menschen mit einer Essstörung könnte der Eindruck entstehen, dass ein Krankheitsbild glorifiziert wird. „Der Unterschied ist, dass andere die Kontrolle behalten“, erklärt Rauh. Binge-Eater könnten sich den Cheat Day für Freitag zwar vornehmen. Aber schon beispielsweise negative Kritik vom Chef am Dienstag reiche aus, um alles zu ändern.

Wer ist von Binge-Eating betroffen?

Die Binge-Eating-Disorder entwickelt sich häufig im jungen Erwachsenenalter, sie kann aber auch erst später vorkommen. Man geht davon aus, dass rund zwei Prozent aller Menschen in ihrem Leben an der Essstörung erkranken. Dabei sind Frauen etwas häufiger betroffen als Männer.

Unabhängig davon, wann die Erkrankung auftritt, begeben sich die meisten Betroffenen erst relativ spät in Behandlung. Grund dafür ist, dass die Essstörung noch nicht so lange bekannt ist und sich die Menschen denken, dass sie sich nur zusammenreißen müssen, um den Essattacken ein Ende zu setzen.

Falls Sie selbst oder Mitglieder aus Ihrer Familie oder dem Freundeskreis unter Essstörungen leiden, finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wichtige Informationen sowie eine Telefonberatung.

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Quellen

Themen Essstörungen Frauengesundheit Psychologie
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