13. Dezember 2022, 15:13 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
„Hoffentlich kein Bandscheibenvorfall!“ Haben Sie das auch schon einmal gedacht, als sie von Rückenschmerzen geplagt wurden und den Orthopäden aufgesucht haben. In Wahrheit jedoch stehen die Beschwerden nur in seltenen Fällen mit der Angstdiagnose in Verbindung. Und die tatsächlich Betroffenen haben es im Zweifelsfall gar nicht gemerkt. Über die Symptome eines Bandscheibenvorfalls und Behandlungsmöglichkeiten sprach FITBOOK mit dem Münchener Orthopäden Dr. Martin Marianowicz, der vor vorschnellen Operationen ausdrücklich warnt.
Bei stechenden Rückenschmerzen, die womöglich noch in die Arme oder Beine ausstrahlen, ist der erste Gedanke häufig gleich der Bandscheibenvorfall. Man kennt die Leidensgeschichten von Betroffenen, die sich kaum bewegen können, schief stehen und nicht selten beim Chirurgen landen. Dabei ist Operieren nur in den aller seltensten Fällen eine gute Idee, weiß der Münchener Orthopäde Dr. Martin Marianowicz. Bei FITBOOK verrät er erstaunliches über das vermeintliche Volksleiden.
Übersicht
Was genau ist ein Bandscheibenvorfall?
Die Bandscheiben, von denen der Mensch insgesamt 23 hat, stellen die Beweglichkeit der Wirbelsäule sicher. Sie bestehen aus zwei Teilen: dem Gallertkern und einem Knorpelfaserring, der Stöße abdämpft. Mit den Jahren nutzen sich die Faserverbindungen ab und bekommen mehr und mehr kleine Risse. Dieser Prozess tritt auf jeden Fall ein, jedoch können ihn verschiedene Faktoren – etwa Belastungsweise und -intensität – beschleunigen. Bei einem Bandscheibenvorfall reißt der Ring ganz, mit der Folge, dass die Gallertmasse in den Wirbelkanal eindringt.
Individuelle Schmerzempfindung
Unter anderem davon, welche Nervenwurzel betroffen ist. Wie der Orthopäde uns jedoch erklärt, ist Schmerzempfindung eine subjektive Angelegenheit und nicht zuletzt bedingt durch die seelische Verfassung. Laut Dr. Marianowicz beeinflussen Faktoren wie Angst, Ungewissheit, Stress, Erschöpfung oder Überforderung die subjektive Schmerzwahrnehmung maßgeblich. Rezeptoren an den Nerven senden die Information Schmerz ins menschliche Gehirn. Wie unangenehm oder erträglich dieser empfunden wird, ist ein Stück weit erlernt und steht auch mit Schmerzerfahrungen aus der Vergangenheit in Verbindung.
Marianowicz bezieht sich auf eine repräsentative Studie mit Probanden über 65, die sich als komplett schmerzfrei beschrieben. Ihr Rücken wurde daraufhin untersucht – und bei 92 Prozent von ihnen ein Bandscheibenvorfall festgestellt, den die Betroffenen selbst nicht wahrgenommen hatten. Auch umgekehrt hätten bereits Zahlen belegt, dass 60 bis 70 Prozent von chronisch Rückenkranken – also solchen, die länger als drei Monate unter Schmerzen litten – ohne Befund blieben. Nur etwa zehn Prozent der Rückenschmerzen, die in deutschen Orthopädiepraxen behandelt werden, sind tatsächlich auf einen Bandscheibenvorfall zurückzuführen.
Kann man einem Bandscheibenvorfall vorbeugen?
Es empfehle sich, körperlich aktiv und fit zu sein, auf einen gesunden Body-Mass-Index zu achten, seine Muskulatur zu trainieren und stabil zu halten. Dennoch sei die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seines Lebens einen Bandscheibenvorfall zu bekommen, sehr hoch, weiß der Experte, „fast jeder Über-30-Jährige ist davon betroffen“. Interessanterweise wird er von einem Großteil nicht bemerkt. Klingt unlogisch, liegt aber daran, dass etwaige Schmerzen oder Beschwerden durch einen Bandscheibenvorfall individuell unterschiedlich wahrgenommen werden.
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Welche Symptome deuten auf die Erkrankung hin?
Schmerzen in einem Bein oder Arm, Kribbel- oder Taubheitsgefühle, wiederkehrende Rückenbeschwerden bei Belastung, Probleme dabei, den Fuß anzuheben oder das Knie durchzustrecken sowie Beugungsstörungen im Ellenbogen oder Handgelenk. Bei einem Bandscheibenvorfall kann es auch zu Verhärtungen und/oder Lähmungen einzelner Muskeln kommen. Wenn keine Nervenwurzeln beteiligt sind, bleiben die typischen Symptome häufig aus. Ebenso gibt es Menschen, deren ausgeprägte Rückenmuskulatur den Bandscheibenvorfall abfedert.
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So erfolgt die Diagnose „Bandscheibenvorfall“
Für den gängigen Untersuchungsprozess fertigt man mittels Kernspintomografie Detailaufnahmen vom Inneren der Wirbelsäule an. Diese zeigen auf, ob und wo ein Bandscheibenvorfall aufgetreten ist. „Das Generalsymptom ist aber der Schmerz“, erklärt Dr. Marianowicz.
Bei Rückenangelegenheiten sei die Diagnostik anders als in anderen medizinischen Bereichen. Viele krankhafte Veränderungen, etwa Tumore, lassen sich eindeutig feststellen und sollten alleine aufgrund ihrer Existenz behandelt werden. „Rückenschmerzen sind nur zum Teil bedingt durch den im Bild erkennbaren Befund.“ Vielmehr sei der Leidensdruck des Patienten entscheidend. Der Münchener Orthopäde erarbeitet daher gemeinsam mit seinen Patienten, wie schlimm ihr Schmerz an welcher Stelle ist.
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Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Unabhängig davon, an welcher Stelle der Wirbelsäule der Vorfall laut MRT-Bild sitzt oder ggf. besonders heftig ausfällt, entscheidet einzig das Schmerzempfinden des Patienten darüber, wie intensiv man ihn behandeln muss. Von Schmerzmitteln als Spritzen, Tabletten oder in Form von Infusionen bis hin zur Operation gibt es verschiedene sanfte und intensivere Behandlungsmöglichkeiten. Manchmal setzen Ärzte einen Katheter in den Wirbelsäulenkanal ein, der die Entzündung beruhigt. In manchen Fällen genügen pflanzliche Arzneien, Entspannungsübungen oder Akupunktur. In anderen besteht überhaupt kein Handlungsbedarf.
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Das entzündete Gewebe – also die Bandscheibe, die ‚vorgefallen‘ ist – wird entfernt. Ratsam sei diese Maßnahme aber nur in vier Prozent der Fälle, und zwar dann, „wenn Nerven messbar geschädigt worden sind“, so Marianowicz, der selbst Wirbelchirurg ist. Stolze 80 Prozent der Bandscheibenvorfälle verheilen nach durchschnittlich sechs bis acht Wochen von selbst – entsprechend kritisch sieht der Experte Kollegen, die vorschnell zum Eingriff raten. Dieser habe in erstaunlich vielen Fällen unangenehme Folgen: Immerhin muss jeder fünfte Operierte sich zur Korrektur erneut unters Messer legen. Selbst wenn sauber gearbeitet wurde, kann der Patient dauerhaft Schmerzen behalten. Eine missglückte Bandscheiben-OP kann schlimmstenfalls im Rollstuhl enden. Hinzu kommen die Risiken durch Komplikationen, beispielsweise durch die Betäubung, die mit jedem chirurgischen Eingriff einhergehen.