
22. April 2025, 11:09 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Eine Geburt ist ein Wunder – doch sie kann auch überwältigend sein. Plötzlich ist da ein kleines Wesen, das rund um die Uhr versorgt werden will. Schlaflose Nächte, Unsicherheiten und bürokratische Hürden machen vielen Eltern zu schaffen. Genau hier setzen die Babylotsen an. Sie begleiten Mütter und Väter in den ersten Tagen, gegebenenfalls Wochen, nach der Geburt, vermitteln Hilfe und sorgen dafür, dass niemand allein durch diese turbulente Zeit gehen muss. FITBOOK-Redakteurin Julia Freiberger sprach mit der Koordinatorin des Programms und einer Babylotsin, die aus ihrem Alltag in der Charité Berlin berichten.
„Wir sind da, wenn Eltern nicht mehr weiterwissen“, sagt Babylotsin Mira Wilkendorf. Gemeinsam mit Dr. Christine Klapp, langjähriger Koordinatorin des Babylotsen-Programms Charité Berlin, erklären sie FITBOOK im Interview, warum frühe Unterstützung so wichtig ist – und wie das Programm funktioniert.
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Übersicht
- „Viele Eltern wissen gar nicht, dass es Hilfe gibt“
- Ablauf des Programms
- „Hebammen und Babylotsen – wir arbeiten Hand in Hand“
- „Viele Frauen wissen nicht, dass der ‚Babyblues‘ normal ist
- „Dieses sogenannte Schütteltrauma hat verheerende Folgen“
- „Wir sind auf jeden Fall das ganze erste Jahr ansprechbar“
- Berührende Momente des Babylotsen-Programms
- Fazit: Eltern brauchen mehr Unterstützung – Babylotsen sind ein wichtiger Schritt
- Quellen
„Viele Eltern wissen gar nicht, dass es Hilfe gibt“
FITBOOK: Warum wurde das Babylotsen-Programm ins Leben gerufen? Gab es einen Mangel an Informationen oder Unterstützung für Eltern?
Dr. Christine Klapp: „Ja, es gibt viele Unterstützungsangebote für Eltern, vor allem im Rahmen der ‚Frühen Hilfen‘. Aber das Problem ist: Viele wissen gar nicht, dass es diese Angebote gibt oder finden den Weg nicht dorthin. Hier kommen die Babylotsen – 2007 in Hamburg und 2011 in Berlin eingeführt – ins Spiel. Ihr Ziel ist es, Mütter und Väter frühzeitig an die Hand zu nehmen – bevor Überforderung zum Problem wird.“
Mira Wilkendorf: „Wir wollen nicht, dass Eltern erst dann Hilfe bekommen, wenn sie mit ihren Kräften am Ende sind.“
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Ablauf des Programms
Wie genau funktioniert das Babylotsen-Programm?
Mira Wilkendorf: „Bereits bei der Anmeldung zur Geburt in der Klinik werden psychosoziale Fragen gestellt: Ist die Mutter alleinerziehend? Gibt es finanzielle oder gesundheitliche Belastungen? Wer in dieser Analyse eine bestimmte Punktzahl erreicht, wird von den Babylotsen aktiv angesprochen. Aber jeder kann sich an uns wenden – unabhängig von der Punktzahl. Die Kontaktdaten sind in Berlin auf dem Einlieger im Mutterpass oder sonst auf Infozetteln in der Klinik zu finden.“
„Hebammen und Babylotsen – wir arbeiten Hand in Hand“
Was unterscheidet Babylotsen von Hebammen?
Mira Wilkendorf: „Hebammen sind primär medizinisch ausgebildet und begleiten Frauen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Wir hingegen kümmern uns auch um psychosoziale Themen, beraten zu Elterngeld oder Kindergeld, vermitteln Hilfsangebote und entlasten bei organisatorischen Fragen.“
Warum ist Zusammenarbeit so wichtig?
Dr. Christine Klapp: „Hebammen haben oft keine Zeit, sich mit sozialrechtlichen Themen zu befassen – genau hier springen wir ein.“
Warum bekommen nicht alle Eltern automatisch Unterstützung?
Dr. Christine Klapp: „Das wäre personell und finanziell nicht schaffbar. Deshalb gehen wir gezielt auf Familien zu, bei denen unsere Analyse auf mögliche Belastungen hinweist“. Dabei geht es auch um sensible Themen wie finanzielle Sorgen, psychische Belastungen oder schwierige Partnerschaftssituationen.“
Mira Wilkendorf: „Gleichzeitig sind wir für alle da. Auch Eltern, die in unserer Analyse nicht als besonders belastet gelten, können sich jederzeit an uns wenden.“
„Viele Frauen wissen nicht, dass der ‚Babyblues‘ normal ist
Welche Sorgen und Fragen haben Eltern am häufigsten?
Mira Wilkendorf: „Viele Mütter merken erst nach der Geburt, wie wichtig eine Hebamme wäre – und dann ist es oft schwer, noch eine zu finden, da können wir bei 80 Prozent helfen. Daneben tauchen immer wieder Fragen auf wie: Wie bekommt man schnell die Geburtsurkunde? Hat man Anspruch auf eine Haushaltshilfe? Was tun, wenn das Baby viel schreit? Ab wann spricht man von einer Wochenbettdepression?“
Dr. Christine Klapp: „Zudem wissen viele Frauen nicht, dass der ‚Babyblues‘ normal ist. Wichtig ist, ihn von einer echten Wochenbettdepression zu unterscheiden – und dann gezielt Unterstützung anzubieten. Auch das Thema Schreibaby spielt in vielen Gesprächen eine Rolle. Eltern fühlen sich oft hilflos und verzweifelt, wenn ihr Kind über längere Zeit untröstbar weint.“
„Dieses sogenannte Schütteltrauma hat verheerende Folgen“
Wie häufig kommt ein Schütteltrauma vor – und wie schlimm sind die Folgen?
Dr. Christine Klapp: „Spätestens hier muss man über das Risiko einer Überforderung sprechen, die durch kurzfristigen Verlust von Nerven und Selbstkontrolle der Betreuungsperson dazu führen kann, dass das Baby geschüttelt wird. Dieses sog. Schütteltrauma hat verheerende Folgen: Nur etwa 10 bis 20 Prozent der Babys überstehen diese Misshandlungsform unverletzt, 10 bis 30 Prozent sterben, 50 bis 70 Prozent überleben mit lebenslangen geistigen oder körperlichen Behinderungen und Krampfleiden.“
Wie kann man Eltern frühzeitig über die Gefahren des Schüttelns aufklären?
Dr. Christine Klapp: „Viele Eltern wissen nicht, was passiert, wenn man ein Baby schüttelt. Wir sprechen das schon frühzeitig bewusst an und geben Rat, wie eine solche Überforderungssituation aufgefangen und abgewendet werden kann – unter anderem durch frühzeitige Beratung bei sogenannten ‚Schreibabyambulanzen‘. Dabei geht es nicht um eine Unterstellung, sondern um Information, die gut angenommen wird. Eltern reagieren darauf offen und dankbar.“
„Wir sind auf jeden Fall das ganze erste Jahr ansprechbar“
Wie erkennt man Eltern, die sich nicht trauen, um Hilfe zu bitten?
Mira Wilkendorf: „Oft hilft es, das Gespräch über unverfängliche Themen wie die Geburtsurkunde oder finanzielle Fragen zu beginnen. So nehmen wir die Hemmschwelle. Und wenn wir einmal im Gespräch sind, öffnen sich viele Eltern von selbst. Wir sind auf jeden Fall das ganze erste Jahr ansprechbar. Wir ermutigen die Familien, sich bei uns zu melden, wenn auch nach der Entlassung noch Fragen oder neue Belastungen auftauchen.“
Dr. Christine Klapp: „Gerade, wenn wir in der Klinik konkrete Hilfe angestoßen haben – etwa eine Haushaltshilfe beantragt, eine Hebamme vermittelt oder eine aufsuchende Elternhilfe installiert haben – rufen wir nach einigen Wochen noch einmal an. Wir fragen, ob das alles geklappt hat, wie es der Familie geht und ob sich inzwischen neue Bedarfe ergeben haben. Wenn nötig, setzen wir dann neu an.“
Berührende Momente des Babylotsen-Programms
Gab es einen Moment, der euch besonders berührt hat?
Dr. Christine Klapp: „Es gibt viele solcher Momente. Eine Mutter schrieb mir nach einem Gespräch: ‚Vielen Dank! Jetzt kann ich mich endlich auf mein Kind freuen.‘ Das zeigt, wie wertvoll unsere Arbeit ist.“
Mira Wilkendorf: „Ein anderer Fall war eine Mutter, die seit einem Jahr in einer Notunterkunft lebte. Wir begleiteten sie durch die Geburt und unterstützten sie bei der Wohnungssuche. Solche Situationen sind natürlich besonders herausfordernd. Diese Arbeit verändert Leben – und manchmal auch unsere eigenen. Wenn wir sehen, dass Eltern mit unserer Unterstützung wieder Hoffnung schöpfen, gibt uns das enorm viel zurück.“
„Social Media setzt Eltern enorm unter Druck“
Was ist der größte Fehler, den Eltern in den ersten Wochen machen können?
Dr. Christine Klapp: „Viele setzen sich selbst unter Druck. Sie glauben, alles allein schaffen und sofort perfekte Eltern sein zu müssen. Social Media verstärkt diesen Druck zusätzlich. Überall sieht man Mütter, die kurz nach der Geburt wieder topfit sind, alles im Griff haben und scheinbar nie an ihre Grenzen kommen. Doch das ist eine völlig unrealistische Erwartung. Wir zeigen Eltern, dass sie nicht perfekt sein müssen – sondern einfach nur für ihr Kind da.“
Wer finanziert die Babylotsen?
Dr. Christine Klapp: „Die Familien müssen nichts zahlen – das war von Anfang an klar. Doch deutschlandweit ist die Finanzierung noch nicht einheitlich geregelt.“
Mira Wilkendorf: „Manche Standorte werden über Stiftungen finanziert, andere durch die Stadt oder über Spenden. Berlin hat eine Vorreiterrolle – hier wird das Programm zum Glück größenteils durch die Senatsverwaltung für Gesundheit und für alle Geburtskliniken finanziert – aber leider fehlt uns bundesweit bisher die Regelfinanzierung unserer Arbeit. Das wirkt sich leider auch auf uns aus, weil es fast überall in Deutschland unsicher ist, ob die Babylotsenstellen langfristig bestehen.“
Dr. Christine Klapp: „Wir hoffen, dass sich die Politik der Bedeutung bewusst wird. Denn unsere Arbeit ist unverzichtbar, das ist auch vielfach praktisch und wissenschaftlich bestätigt.“

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Fazit: Eltern brauchen mehr Unterstützung – Babylotsen sind ein wichtiger Schritt
Ihr Programm leistet wichtige Arbeit und hilft neuen Familien. Gibt es aber womöglich noch Verbesserungsbedarf?
Dr. Christine Klapp: „Die Geburt eines Kindes ist nicht nur ein Glücksmoment – sondern oft auch eine Zeit der Unsicherheit. Das Babylotsen Programm hilft genau dort, wo Eltern überfordert sind – und geben ihnen die Sicherheit, die sie brauchen. Doch das System hat noch Schwächen: Eine gesicherte Finanzierung und eine bessere Anbindung an langfristige Angebote wären dringend nötig. Elternwohl ist Kindeswohl – und niemand sollte in dieser wichtigen Lebensphase allein gelassen werden.“
Seit 2024 unterstützt auch BILD hilft e.V. „Ein Herz für Kinder“ das Projekt „Babylotsen“ gezielt mit der Übernahme von Personalkosten für Babylotsinnen – verteilt auf derzeit 17 Berliner Geburtskliniken.
Der Qualitätsverbund Babylotse e.V. ist ein deutschlandweiter Zusammenschluss von Fachkräften und Institutionen, die das Programm Babylotse kontinuierlich weiterentwickeln und gemeinsam umsetzen. Hierbei ist das Ziel des Programms, Familien bereits während der Schwangerschaft sowie in den ersten Lebensjahren des Kindes durch frühzeitige Beratung und gezielte Unterstützung zu begleiten.1
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) verfolgt das vorrangige Ziel, die Entwicklungschancen von Kindern – insbesondere im Hinblick auf Familien mit Belastungen – frühzeitig und dauerhaft zu stärken. Ein wesentlicher Schwerpunkt stellt dabei die gezielte Vernetzung von Angeboten des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie weiteren relevanten Stellen wie der Schwangerschaftsberatung und der Frühförderung dar. 2