3. November 2024, 7:32 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Von Unruhe und Schlaflosigkeit bis hin zu Angstzuständen, Erschöpfung und Unfruchtbarkeit – die ayurvedische Heilpflanze Ashwagandha soll speziell bei „westlichen Leiden“ Wunder wirken. Doch gibt es wissenschaftliche Belege dafür? Und: gibt es auch Nebenwirkungen? FITBOOK-Redakteurin Friederike Ostermeyer wirft einen Blick auf die aktuelle Studienlage und fragt bei einem Mediziner und Ayurveda-Experten nach.
Bis vor wenigen Jahren waren Ashwagandha-Präparate hierzulande lediglich in Insider-Kreisen bekannt. Doch mittlerweile finden sich die Pillen und Kapseln als Extrakt in Form von Nahrungsergänzungsmitteln auch in den Drogerie-Regalen. Die beschriebene Wirkung klingt vielversprechend: mehr Leistung, weniger Stress und Angstgefühle, tieferer Schlaf, psychische Stärke sowie eine verbesserte Fruchtbarkeit, speziell bei Männern. Diese Probleme betreffen immer mehr Menschen der westlichen Welt, also aus Industrienationen. Kein Wunder, dass auch hierzulande Verbraucher hoffen, ihre Beschwerden mit Ashwagandha lindern zu können. Immerhin ist das Heilkraut in der ayurvedischen Lehre bereits seit mehr als 2.000 Jahren bekannt. Für die Schulmedizin ist die Pflanze jedoch Neuland. Und auch das Bundesinstitut für Risikobewertung rät in einer neuen Mitteilung von der Einnahme ab.
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Überblick
Was ist Ashwagandha?
Ashwagandha (Withania somnifera), auch Schlafbeere, Winterkirsche oder indischer Ginseng genannt, wächst so ziemlich in allen wärmeren Breitengraden. Die Pflanze ist unter anderem in Spanien, Griechenland, Asien, Afrika und im Orient zu Hause, findet aber vor allem in der indischen Medizin Anwendung. Der Name Ashwagandha bedeutet auf Sanskrit „Geruch des Pferdes“, was sich nicht nur auf den „rustikalen Geschmack“, sondern auch auf die Kraft bezieht, die vor allem in der Wurzel stecken soll.
Sie enthält verschiedene Alkaloide – therapeutisch interessant sind vorrangig die Withanolide. Das sind über 300 chemische Verbindungen, denen antioxidative, entzündungshemmende, angstlösende, regenerative und stressmindernde Eigenschaften nachgesagt werden. Erste Untersuchungen an Mäusen legen zudem nahe, dass Withanolide das Tumorwachstum hemmen könnten.1
Ashwagandha gehört zu den sogenannten adaptogenen Pflanzen, wozu übrigens auch der bei uns heimische Rosenwurz zählt. Adaptogene docken, vereinfacht gesagt, dort an, wo Stress entsteht. Sie wirken beruhigend, aber auch stimulierend, und zwar genau so, wie jeder es individuell gerade braucht. Das heißt, sie passen sich an die jeweiligen Bedürfnisse an und bringen in Balance, was durcheinander geraten ist. Das erklärt auch die vielen Anwendungsgebiete der Ashwagandha-Wurzel in der ayurvedischen Medizin. Die Pflanze hilft eben dort, wo sie „gebraucht“ wird. Das macht sie vielseitig einsetzbar und erklärt, warum sie bei jedem Menschen ein wenig anders wirkt.
Beschwerden, bei denen Ashwagandha traditionell angewendet wird
In der traditionellen ayurvedischen Lehre gehört Ashwagandha seit über 2.000 Jahren zur Standard-Heilpflanze und ist damit die vermutlich am meisten verbreitete Medizin bei seelischem Ungleichgewicht. Sie findet vordergründig Anwendung bei:
- Schlaflosigkeit
- Innerer Unruhe
- Angstzuständen
- Leichten Depressionen
- Sexueller Unlust/Impotenz
- Vergesslichkeit
- Unfruchtbarkeit bei Männern
- Erschöpfung/Burn-out
- Kopf- und Muskelschmerzen
- Überanstrengung
- Allgemeinem Leistungsabfall
Das weiß die Wissenschaft über die Wirkung von Ashwagandha
Die Schulmedizin ist gerade erst am Anfang, Ashwagandha für sich zu entdecken. Dass allerdings an mehrere tausend Jahre alten Erfahrungswerten etwas dran sein muss, scheinen erste Untersuchungen zu belegen.
Reduktion von Stresshormonen und Milderung leichter Angstzustände
Cortisol ist als Stresshormon bekannt, welches bei starker psychischer Belastung über die Nebennieren freigesetzt wird. Zu viel davon versetzt den Menschen in Daueralarmbereitschaft, lässt den Blutzuckerspiegel ansteigen und sorgt für eine unnatürliche Fettspeicherung in der Bauchgegend. Eine placebokontrollierte Doppelblind-Studie mit 64 chronisch gestressten Erwachsenen ergab: Bereits 300 Milligramm Ashwagandha pro Tag reichten, um den Cortisolspiegel im Blut nach 60 Tagen um 27,9 Prozent abzusenken. Die Teilnehmenden berichteten zudem im anschließendem Interview, sich wesentlich gelassener und entspannter zu fühlen, während sich die negativen Symptome der Placebogruppe sogar noch verstärkten.2 Die Untersuchung ist zwar von 2012 und damit nicht ganz neu, gehört aber zu den bekanntesten. Eine aktuellere klinische Studie mit 56 gesunden Probanden, die 60 Tage lang Ashwagandha-Wurzelextrakt oder ein Placebo einnahmen, kommt jedoch zu einem ähnlichen Ergebnis. Während der Cortisolspiegel signifikant sank, stieg der Serotoninspiegel – das bekannte Glückshormon – an.
Verbesserung der Schlafqualität
Eine 2019 durchgeführte Studie mit 60 schlafgestörten Teilnehmenden (20 erhielten ein Placebo, 40 bekamen 300 Milligramm hoch konzentriertes Wurzelextrakt) brachte zutage, dass sich bei der Ashwagandha-Gruppe die Schlafqualität stark verbesserte. Alle berichteten von einer kürzeren Einschlafzeit sowie besserem Durchschlafen und erholterem Aufwachen am Morgen. Ebenso verringerten sich die auf die Schlaflosigkeit zurückzuführenden Angstzustände.3 Eine 2020 durchgeführte Untersuchung mit 150 Probanden kam sogar zu dem Schluss, dass eine sechswöchige Ashwagandha-Kur die Schlafqualität um ganze 72 Prozent verbesserte – laut der Selbsteinschätzung der Probanden.4
Unterstützung bei Schilddrüsenunterfunktion
Ashwagandha scheint offenbar auch Hypothyreose (mangelnder Versorgung mit Schilddrüsenhormonen) entgegenzuwirken. Eine achtwöchige Studie an 50 betroffenen Personen ergab, dass die tägliche Einnahme von 600 Milligramm Ashwagandha-Wurzelextrakt zu einer signifikanten Verbesserung der Schilddrüsenwerte im Vergleich zur Einnahme eines Placebos führte. Die Forschenden vermuten, dass dieser Effekt mit der Senkung des Cortisolspiegels einhergeht, welcher bereits in Studien zuvor festgestellt worden war. Es bedarf noch weiterer Forschung, heißt es weiter.5 Patienten mit Schilddrüsenproblemen sollten Ashwagandha daher niemals in Eigenregie einnehmen.
Hilfe bei niedrigen Testosteronwerten
Ashwagandha gilt in der indischen Heilslehre als die Männermedizin, obwohl natürlich auch Frauen von der Pflanze profitieren. Was frühere Studien bereits gezeigt hatten, offenbarte sich 2019 bei einer Untersuchung erneut: Übergewichtige Männer mit abnehmender Testosteronkonzentration im Alter zwischen 40 und 70 Jahren bekamen über einen Zeitraum von 16 Wochen ein Präparat mit 21-prozentigem Withanolid-Anteil verabreicht. Anschließende Messungen ergaben, dass sich der Testosteronspiegel im Speichel um 14,7 Prozent gegenüber der Placebogruppe erhöht hatte. Darüber hinaus berichtete ein Großteil der Probanden von einem genussvollen Erwachen „sexueller Lebensgeister“.6
Verbesserung der Spermienqualität und damit der Fruchtbarkeit von Männern
Bei den Industrienationen nimmt die Spermienqualität bei Männern seit Jahrzehnten rapide ab. Es wird sogar angenommen, dass ein unerfüllter Kinderwunsch zu etwas mehr als 50 Prozent am männlichen Partner liegt. Ashwagandha scheint wieder etwas Bewegung in ein schlechtes Spermiogramm zu bringen. Eine 2013 durchgeführte Studie gibt zumindest Hoffnung. 46 Männer mit diagnostizierter Unfruchtbarkeit erhielten über drei Monate hinweg ein Präparat. Das Ergebnis: ein Anstieg der Spermienkonzentration um 167 Prozent, bessere Beweglichkeit inklusive.7 2009 kam eine frühere Untersuchung zu einem ähnlichen Resultat – mit dem Zusatz, dass sich bei 14 Prozent der Partnerinnen die ersehnte Schwangerschaft einstellte.8
Verbesserung der sportlichen Ausdauer und Unterstützung des Muskelaufbaus
Auch für Sportler kann Ashwagandha ein wertvolles Helferlein sein. Für eine klinische Studie wurden 57 gesunde Männer rekrutiert, welche kaum Erfahrung im Krafttraining mitbrachten. Es reichten acht Wochen Präparat-Einnahme, samt Training, um eine signifikante Zunahme der Muskelkraft gegenüber der Placebo-Gruppe festzustellen. Auch der Körperfett-Anteil sank vergleichsweise schneller, während die Testosteronwerte anstiegen. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine Ashwagandha-Supplementierung in Verbindung mit Krafttraining nützlich sein kann.9
Das sagt ein Mediziner und Ayurveda-Experte über die Wirkung von Ashwagandha
Die meisten Studien stammen aus Indien und weisen eine vergleichsweise geringe Zahl an Teilnehmenden auf. Die durchweg eher positiven Ergebnisse geben zwar Hinweise auf ein medizinisch bedeutsames Wirkspektrum, für wissenschaftlich fundierte Aussagen reichen diese bislang jedoch bisher nicht aus. Das bestätigt auch PD Dr. Christian Kessler, Oberarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin, zu FITBOOK. An der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde gehört die Traditionelle Indische Medizin zu seinen wichtigsten Forschungsgebieten.
„Für mich ist Ashwagandha eine der interessantesten Heilpflanzen Südasiens überhaupt. Sie hat erhebliches Potenzial. „Auch wenn die klinische Datenlage entsprechend der Prinzipien der modernen naturwissenschaftlichen Forschung noch sehr überschaubar ist, kommen doch immer neue Erkenntnisse hinzu.“ Für ihn hat Ashwagandha ganz klar eine Wirkung; wobei in der traditionellen Anwendung bisher eher auf die seit zwei Jahrtausenden bekannten Erfahrungswerte aus der Ayurveda-Medizin zurückgegriffen wird, als auf die bislang noch eher dünne wissenschaftliche Datenlage.
Ein Nahrungsergänzungsmittel ist kein Arzneimittel
Dennoch steht für den Arzt und Naturheilkundler fest: „Ashwagandha hat regeneratives, aufbauendes, nährendes und harmonisierendes Potential. Daher ist es eher als Stärkungsmittel zu betrachten und nicht als Medikament.“ Ein Wundermittel ist es keinesfalls, so Kessler. „Sondern vielmehr eine mögliche hilfreiche Unterstützung für Menschen, die körperlich und psychisch besonders beansprucht sind.“
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Trotzdem rät Kessler, das Nahrungsergänzungsmittel nicht bei Verdacht oder auf gut Glück anzuwenden, sondern zuvor mit einem Arzt zu sprechen, der über eine naturheilkundliche Zusatzausbildung verfügt. Bei ernsthaften gesundheitlichen Problemen oder Vorerkrankungen sollte ohnehin immer ein Arzt aufgesucht werden. Und noch ein Rat zum Schluss: Bestellen Sie Ashwagandha-Präparate grundsätzlich nicht wahllos im Internet, sondern beziehen Sie es über eine Apotheke. „Nur so kann man sichergehen, dass man wirklich ein geprüftes Produkt in bester Qualität erhält.“
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Bundesinstitut für Risikobewertung rät aktuell von der Einnahme ab
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gab im September die „Mitteilung 39/2024“ raus. In dieser heißt es: „Die Ergebnisse bestätigen und ergänzen die bisherige Risikobewertung des BfR, indem sie darauf hinweisen, dass Ashwagandha-Zubereitungen den Blutzuckerspiegel, die Sexualhormone, das Zentralnervensystem, die Schilddrüsen-, Nebennieren- und die Leberfunktion beeinflussen können. Die Datenqualität für eine verlässliche Risikobewertung und Ableitung von sicheren Zufuhrmengen wurde aber weiterhin als ungenügend erachtet – unter anderem, weil auch mögliche Folgen einer langfristigen Einnahme bislang nur unzureichend untersucht wurden.“10
Das BfR verweist weiterhin auf Berichte zu Leberschäden, darunter auch Fälle von akutem Leberversagen, die Anlass zur Vorsicht geben. Insgesamt scheint es Personengruppen zu geben, die besonders empfindlich auf Ashwagandha reagieren können, so Personen mit akuten oder in der Vergangenheit liegenden Lebererkrankungen.
Außerdem gebe es Hinweise auf Wechselwirkungen von Ashwagandha-Präparaten mit
anderen Medikamenten Antidiabetika, Blutdrucksenker und Immunsuppressiva. Wer das Nahrungsergänzungsmittel einnehmen möchte, sollte in jedem Fall ärztlich mögliche negative Wechselwirkungen ausschließen lassen.
Daten zur Sicherheit von Ashwagandha in Bezug auf Schwangere, Stillende und Kinder fehlen dem BfR, weshalb sie insbesondere diesen Bevölkerungsgruppen von der Einnahme abraten.