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Experte klärt auf

Vitaminpillen produzieren nur „teuren Urin“

Vitaminpräparate
Alle Vitamine und Mineralstoffe aus nur einer Pille? Klingt zunächst ganz praktisch, brauchen aber die meisten Deutschen gar nicht. Denn über eine ausgewogene Ernährung ist man gut mit allen Nährstoffen versorgt, sagt Prof. Dr. Helmut Heseker von der Universität Paderborn Foto: Getty Images
Martin Lewicki
Freier Autor

7. Mai 2018, 6:43 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten

Schön eine Multivitamin-Brausetablette im Wasserglas auflösen, austrinken, fertig. So einfach stellen sich viele die tägliche Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen vor. Doch bringen Vitaminpräparate überhaupt was? FITBOOK hat mit einem Ernährungswissenschaftler gesprochen und ernüchternde Antworten bekommen.

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In Drogeriemärkten gibt es ganze Regale voll mit Vitamin- und Mineralstoffpräparaten. Das Thema ist derart populär, dass viele Menschen ein Allgemeinwissen dazu angehäuft haben: Bei Muskelkrämpfen und Augenzucken soll Magnesium helfen, bei Erkältungen greift man zu Vitamin C und Zink, bei Erschöpfung hat man vermutlich Eisenmangel und im Winter braucht man zusätzlich Vitamin D. Vieles davon stimmt aber nicht wirklich. Zudem werden Vitaminpräparate meist nach Gefühl eingenommen und nicht, weil ein Mangelzustand vom Arzt diagnostiziert wurde.

Insbesondere versprechen Multivitaminpräparate, uns mit allen wichtigen Nährstoffen zu versorgen. Aber brauchen wir die überhaupt? Und woher wissen wir, welche Dosis wir benötigen? Viele Supplements enthalten das Mehrfache der von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlenen Tagesdosis. Da stellt sich die Frage: Können wir Vitamine und Mineralstoffe überdosieren?

Veganer aufgepasst!

Es gibt tatsächlich Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer Lebensumstände oder besonderen Ernährung einen Mangel an bestimmten Nährstoffen entwickeln können. So hat sich die DGE beispielsweise zu veganer Ernährung positioniert und insbesondere den Vitamin-B12-Mangel hervorgehoben, der bei Veganern ein Problem darstellt. Das Vitamin kommt in einer für Menschen verfügbaren Form fast nur in tierischen Lebensmitteln vor. Deswegen rät die DGE Veganern zur dauerhaften Einnahme eines Vitamin-B12-Präparats.

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Als weitere potenziell kritische Nährstoffe bei veganer Ernährung werden neben unentbehrlichen Aminosäuren und Omega-3-Fettsäuren auch Mineralstoffe wie Kalzium, Eisen, Jod, Zink, Selen und die Vitamine Riboflavin sowie Vitamin D genannt. Deswegen sollten Veganer ihr Blut regelmäßig kontrollieren lassen, um Mangelerscheinungen vorzubeugen. Die Einnahme von Präparaten sollte aber nur in Abstimmung mit einem Arzt erfolgen.

Doch der Bevölkerungsanteil von Veganern liegt in Deutschland schätzungsweise nur zwischen 0,1 und 1 Prozent. Wer sich laut der DGE ausgewogen mit einer Mischkost aus Gemüse, Obst, Fisch, Hülsenfrüchten, pflanzlichen Ölen und tierischen Produkten ernährt, weder raucht noch übermäßig viel Alkohol trinkt, der trägt ein geringes Risiko einer Unterversorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen. Dennoch suggeriert uns die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie, dass wir einen Mangel an Nährstoffen haben könnten.

Vitaminpillen
Die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie hält für jedes Vitamin- und jeden Mineralstoff eine Pille bereit – doch nur die wenigsten Deutschen brauchen sie wirklich Foto: Getty Images

Klarheit schafft hier nur ein Blutbild beim Arzt, denn so kann festgestellt werden, ob beispielsweise Eisen-, Vitamin-D- oder B12-Mangel überhaupt vorliegt. Auch, wer sich über einen längeren Zeitraum erschöpft fühlt, unter Schlafproblemen und depressiven Stimmungen leidet oder häufiger krank ist, der sollte sein Blut untersuchen lassen, anstatt auf Gutglück zu einem Vitaminpräparat zu greifen. Denn die Dosis und die Art des Präparates sollten mit dem Arzt abgesprochen werden.

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Wer aus den oben beschriebenen Gründen zu einem Nahrungsergänzungsmittel greift, der sollte mal einen Blick auf die Inhaltsstoffe werden. Hier gilt: je kürzer die Liste, desto besser. Denn leider pumpen viele Hersteller ihre Pillen und Brausetabletten mit Füllstoffen, Süßungsmitteln, Farbstoffen, Aromen und Konservierungsstoffen voll. Hier sollten Sie darauf achten, dass möglichst nur die benötigten Wirkstoffe ohne unnötige Zusätze enthalten sind.

Besonders umstritten ist die Einnahme von sogenannten Antioxidantien, die freie Radikale im Blut bekämpfen sollen. In einer groß angelegten Meta-Analyse von Goran Bjelakovic und weiteren Wissenschaftlern aus dem Jahr 2012 wurden mehrere Studien mit fasst 250.000 Teilnehmern ausgewertet, um herauszufinden, ob die Einnahme von Antioxidantien (Vitamin A, Beta-Carotin, Vitamin C, Vitamin E und Selen) einen Einfluss auf die Lebensdauer hat. Das Ergebnis: Die Einnahme von Antioxidantien wie Vitamin E und Beta-Carotin hat keinen positiven Einfluss auf die Lebenserwartung. Bei hohen Dosierungen hat sich die Sterblichkeitsrate sogar um 1-2% erhöht. Allerdings sollte hierbei berücksichtigt werden, dass die Teilnehmer in einigen der analysierten Studien deutlich höhere Konzentrationen an Antioxidantien zu sich genommen haben, als Sie in Deutschland erlaubt sind. Bei den handelsüblichen Produkten in Deutschland, ist daher weder von einem positiven noch einem negativen Effekt auszugehen.

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Beim Experten nachgefragt

Insgesamt ist die Studienlage zu Vitaminpräparaten unübersichtlich und widersprüchlich. Außerdem wollen wir mit den Mythen rund um Vitaminpräparate aufräumen und haben deswegen jemanden dazu befragt, der es wissen muss: Prof. Dr. Helmut Heseker ist Ernährungswissenschaftler an der Universität Paderborn und Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Herr Prof. Dr. Heseker, wann sollten man zu Vitamin- und Mineralstoffpräparaten greifen? Wenn ich plötzlich Muskelkrämpfe oder Augenzucken habe, ist es doch ein Indikator dafür, dass ich Magnesium substituieren sollte oder?

„Muskelkrämpfe und Augenzucken sind unspezifische Symptome und können viele Ursachen haben. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass ein Magnesiummangel dahintersteckt.“

Und was ist bei Erkältungen: Helfen Vitamin C und Zink, um einer Erkältung vorzubeugen oder um sie schneller loszuwerden?

„Die Studienlage hierzu ist insgesamt sehr uneinheitlich. Eine systematische Analyse von unabhängig durchgeführten Studien zeigt aber, dass Vitamin-C- und Zink-Supplemente weder eine Erkältung verhindern noch dabei helfen können, diese deutlich schneller wieder loszuwerden. Eine Erkältung kommt drei Tage, bleibt drei Tage, geht drei Tage – ohne und mit Vitamin C plus Zink.“

Prof. Dr. Helmut Heseker
Prof. Dr. Helmut Heseker ist Ernährungswissenschaftler an der Universität Paderborn und Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Foto: Privat

Gibt es Bevölkerungsgruppen, die einen besonders hohen Bedarf an bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen haben, wie beispielsweise Sportler, Schwangere und Veganer?

„Der Nährstoffbedarf insbesondere von Eisen, Jod und Folat ist nur während der Schwangerschaft und Stillzeit deutlich erhöht. Leistungssportler haben sowohl einen erhöhten Energie- als auch Nährstoffbedarf. Der Bedarf an Vitaminen und Mineralstoffen ist aber gegenüber dem Energiebedarf nicht überproportional erhöht. Mit Ausnahme von gewichtssensiblen Sportarten wie Turnen oder Tanzen werden mit den größeren Lebensmittelverzehrmengen auch ausreichend lebensnotwendige Nährstoffe zugeführt. Durch eine zusätzliche Supplementierung kommt es weder im ambitionierten Freizeit- noch im Leistungssport zu einer messbaren Leistungssteigerung oder einem positiven Einfluss auf die Regeneration nach einer körperlichen Belastung.

Der Bedarf bei Veganern ist gegenüber Gemischtköstlern nicht erhöht. Wenn allerdings Fleisch, Eier und Milch inklusive daraus hergestellter Produkte in der Kost fehlen, dann ist eine ausreichende Bedarfsdeckung unter anderem mit Vitamin B12, Eisen, Jod und hochungesättigten Fettsäuren durch herkömmliche Lebensmittel nicht einfach zu gewährleisten.“

Was halten Sie von Multivitamin-Tabletten? Sie versprechen oft, mit einer Brausetablette den Tagesbedarf an allen wichtigen Vitaminen und Mineralstoffen zu decken. Dann bin ich doch gut versorgt, oder?

„In Deutschland liefert eine einigermaßen abwechslungsreiche und kalorisch ausreichende Kost alle lebensnotwendigen Nährstoffe in ausreichenden Mengen. In groß angelegten Studien konnte gezeigt werden, dass eine zusätzliche Nährstoffzufuhr weder Krankheiten vermeiden noch das Leben verlängern kann. Sinnvoll kann die Einnahme von Multivitamin-Tabletten bei Personen sein, die längerfristig freiwillig, zum Beispiel durch häufige und längerfristige Einhaltung von Reduktionsdiäten oder unfreiwillig, beispielsweise bei Hochbetagten mit geringem Appetit, nur kleine Nahrungsmengen essen können oder wollen.“

Ausgewogene Ernährung
So sieht ein ausgewogener Ernährungsplan aus. Wer diese Lebensmittel in dargestellten Proportionen zueinander verzehrt, dürfte kaum einen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen erleiden Foto: Getty Images

Kann ich Vitamine und Mineralstoffe durch Zusatzpräparate aus der Drogerie überdosieren? Einige enthalten sogar die mehrfache Tagesdosis dessen, was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt.

„Bei den wasserlöslichen Vitaminen ist die Gefahr einer Überdosierung relativ gering, da diese relativ schnell von den Nieren über den Urin ausgeschieden werden und man vor allem einen ,teuren‘ Urin produziert. Hier besteht daher eher ein ökonomisches Risiko, dass viel Geld für Produkte ausgegeben wird, die nachgewiesenermaßen keine Wirkung auf unsere Gesundheit haben. Die fettlöslichen Vitamine A und D können bei einer Überdosierung im Körper mit nachteiligen Folgen für die Gesundheit kumulieren. Darüber hinaus sollten RaucherInnen keine hoch dosierten Betacarotin-Supplemente einnehmen, da diese unter anderem das Lungenkrebsrisiko erhöhen. Und Eisenpräparate sollten nur bei einem klinisch nachgewiesenen Eisenmangel eingenommen werden.“

Kann der Körper überhaupt synthetisch hergestellte Vitamine genauso gut verwerten wie aus natürlichen Lebensmitteln?

„Der Körper differenziert nicht zwischen natürlichen und synthetischen Vitaminen, sofern diese identisch sind. In Präparaten enthaltene Folsäure wird aber besser absorbiert, als beispielsweise in pflanzlichen Lebensmitteln enthaltene Folatverbindungen, Eisen wiederum wird aus Hämeisen, das in Fleisch und Fleischwaren enthalten ist, oft besser absorbiert als aus veganen Lebensmitteln.“

Wenn ich mir so die Inhaltsstoffe von einem Vitamin-Präparat aus dem Drogeriemarkt anschaue, ist die Liste voll von Begriffen, die ich nicht kenne. Da frage ich mich: Können all diese Zusätze gesund sein?

„Generell gilt, dass Lebensmittelzusatzstoffe gut untersucht sind und gesundheitlich unbedenklich sein müssen, sonst hätten diese keine Zulassung erhalten. Objektiv gesehen stellen diese wahrscheinlich kein echtes Gesundheitsproblem, sondern eher ein ,gefühltes‘ Problem dar.“

Was raten Sie zum Umgang mit Vitamin- und Mineralstoffpräparaten grundsätzlich?

„Trotz gegenteiliger Verlautbarungen von interessengeleiteten Aussagen der Inverkehrbringer von Nahrungsergänzungsmitteln, ist Deutschland kein Vitaminmangelland und es muss auch kein Vitamindefizitalarm ausgelöst werden. Eine kalorisch ausreichende Nahrungsaufnahme liefert bei uns alle Vitamine und Mineralstoffe sowie Proteine in ausreichenden Mengen. Eine Ausnahme kann Vitamin D darstellen, dass Menschen überwiegend nach Sonnenbestrahlung der Haut bilden. Für Personen, die ans Haus gebunden sind, wie zum Beispiel hochbetagte Menschen, ebenso wie für Menschen mit vollständig die Haut bedeckender Kleidung oder Menschen mit starker Hautpigmentierung kann die regelmäßige Einnahme eines Vitamin-D-Präparats ratsam sein.“

Noch klarer für eine Supplementierung mit Vitamin D spricht sich Prof. Nicolai Worm im Gespräch mit FITBOOK aus. Worm erklärt: „Da heute die meisten Menschen im Sommer die Sonne nicht entsprechend nutzen, weil sie in Innenräumen arbeiten und Sonnenschutzmittel auftragen, entwickeln bis zu 80 Prozent der Bundesbürger im Winterhalbjahr einen Vitamin-D-Mangel.“ Diesen gilt es mit zusätzlichen Präparaten auszugleichen.

Themen Nahrungsergänzungsmittel Vitamine
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