27. Februar 2020, 7:43 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Wenn sie sich nur mit Armkraft an einem Seil 85 Meter tief ins Meer hinuntergezogen hat, ist Sheena McNally am Ziel. Wie geht sie dort unten mit der Gewissheit um, weit von der Oberfläche entfernt zu sein – wenn gleichzeitig jede Zelle in ihrem Körper nach Sauerstoff lechzt?
Wie fliegen, nur nach unten: So beschreibt Sheena McNally ihre Sportart im Interview mit FITBOOK.
Foto: Daan VerhoevenBeim Tauchen mit nur einem Atemzug geht es um die Kontrolle und Beherrschung des Atemreflexes. Doch die Unterwasserwelten von Apnoetauchern (von altgriechisch ápnoia, ‚Nicht-Atmung‘) können sehr unterschiedlich sein: Getaucht wird auf Zeit, Strecke oder Tiefe – und dass es etwas vollkommen anderes ist, ob man regungslos mit dem Gesicht nach unten in einem Babybecken liegt, in einem Pool taucht oder durch Ziehen an einem Seil vertikal in ein offenes Gewässer hinabgleitet, liegt auf der Hand.
Letzteres beschreibt die Freediving-Disziplin Free Immersion (kurz: FIM) – was so viel wie Freies Eintauchen bedeutet: Zunächst zieht man sich mit Hilfe der Armmuskulatur (ohne Flossen!) in die Tiefe, irgendwann sinkt der Körper von alleine. Rekordhalterin der Frauen in dieser Disziplin war mit 97 Metern die Japanerin Sayuri Kinoshita (sie starb 2019 im Alter von 30 Jahren nach einem Fenstersturz). Die Kanadierin Sheena McNally trennen nur wenige Meter von diesem Rekord: Sie kommt auf 85 Meter im Wettkampf (das ist kanadischer Rekord) – und nach eigenen Angaben 91 Meter im Training.
FITBOOK: Sheena, wie läuft so ein Rekordtauchgang ab?
Sheena McNally: „Man hat ein Abstiegsseil, an dem Gewichte befestigt sind. Im Grunde genommen zieht man sich wie eine lange Schlange herunter – und wieder hoch. Die Beine sind entspannt. Das klingt einfach und ist physisch unkompliziert. Aber es ist eine herausfordernde Disziplin, weil es langsam ist. Ein Tauchgang auf über 80 Meter Tiefe dauert ohne Flossen drei Minuten und mehr. Man verbringt also eine lange Zeit unter Wasser – ein guter Atemzug und ein ruhiger Geist sind da nur die absoluten Grundvoraussetzungen. Mein Tauchgang auf 82 Meter dauerte 3:06, der auf 85 Meter 3:10. Mein längster Tauchgang, bei dem ich mich fortbewegt habe, dauerte 4:45 Minuten.“
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3:10 Minuten braucht sie für die 85 Meter
Außer einem guten Atemzug und einem ruhigem Geist: Welches Mindset braucht man für so eine Leistung?
McNally: „Ich denke, ausschlaggebend ist eine Denkweise, die entgegengesetzt zu vielen anderen Sportarten steht. Dort wird man besser, indem man sich stärker pusht oder noch mehr anstrengt. Beim Freitauchen macht man Fortschritte, indem man sich entspannt und nur beobachtet, was mit einem passiert, anstatt zu reagieren. Man braucht eine Denkweise wie beim Meditieren: Beobachten, nicht urteilen – und nicht reagieren. Entdecken!“
Wie trainiert man das?
McNally: „Gewichtheben ist ein großartiges Cross-Training, auch HIIT und Crossfit sind Optionen für Freitaucher, da sie mit diesen Aktivitäten anaerob arbeiten können. Stretching ist auch toll. Viele Taucher machen Yoga. Je flexibler man als Apnoetaucher ist, desto behaglicher kann man sich in der Tiefe und mit den Empfindungen der Tiefe fühlen. Aber ich würde nie am selben Tag tauchen und trainieren! Sonst bin ich viel zu müde, um mich zu amüsieren. Und nichts ersetzt die Wiederholung. Ich wiederhole die Tiefen viele Male, bevor ich tiefer gehen. Das ermöglicht es dem Körper und dem Geist, sich anzupassen.“
Manchmal denkt sie unten: Oh nein!
Pool-Freitaucher können jederzeit aufhören, weil sie die Oberfläche immer direkt über sich haben. Wie gehst du mit der Gewissheit um, dass du auf 85 Meter Tiefe sehr weit davon entfernt bist?
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McNally: „Ich habe großen Respekt vor Pool-Freitauchern, weil man permanent versucht ist, jederzeit einfach aufzutauchen. Das heißt, sie müssen den gesamten Tauchgang über arbeiten. Ich habe immer wieder Tauchgänge, bei denen ich denke: Oh nein! Wenn ich unten angekommen bin, ist mein nächster Gedanke aber immer: Entspann dich einfach. Ich versetze mich mit meinen Zügen und Beinschlägen noch auf dem Weg nach oben in einen Rhythmus, zähle die Schläge und versuche, das Gefühl zu genießen, an die Oberfläche zurückzukehren.“
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Wie fliegen, aber nach unten
Das verbraucht sicher viel weniger Sauerstoff als Panik…
McNally: „Panik hilft nicht. Ein großer Teil des Freitauchens besteht darin, zu lernen, dass es einem unter Wasser gut geht, wenn man den Atem anhält. Man lernt, dass der Körper über Mechanismen und Anpassungsfähigkeiten verfügt, um mit dieser Situation umzugehen. Beim Tiefentauchen muss man sich im Detail mit dem Ausgleich der Lufträume im Körper befassen, nämlich den Ohren und Nasennebenhöhlen. Außerdem muss man langsam vorankommen und seinem Körper erlauben, sich an die Tiefe anzupassen. Irgendwann beginnt der Körper, von selber zu sinken. Das ist der freie Fall beim Abstieg. Das heißt, man wird negativ schwimmfähig und kann sich beim Sinken entspannen. Es ist wie fliegen, aber nach unten. Das macht total Spaß! “
WICHTIG: Freitauchen ist eine Sportart, die mit hohen Risiken verbunden ist. Wenn Sie sich jemals dazu entschließen, den Atem unter Wasser anzuhalten, MÜSSEN Sie das mit einem ausgebildeten Tauchpartner tun. Nehmen Sie an einem Freitauchkurs teil. Die gibt es in Pools, Seen und im Meer. Dort lernen Sie, sicher den Atem anzuhalten, und erzielen auch bessere Ergebnisse.