17. Juni 2022, 12:29 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Seit Beginn der Pandemie hat das Spaziergengehen als Hobby an Qualität gewonnen. In Zeiten von Lockdowns, Ausgangssperren und Co. gab der Spaziergang vielen ein Gefühl von Freiheit – und die notwendige Bewegung. Doch wie sieht es mit dem sportlichen Aspekt aus? Trainiert ein Spaziergang auch die Ausdauer? FITBOOK hat beim Sportmediziner Dr. Paul Schmidt-Hellinger nachgefragt.
Gerade für Personen, die ungern joggen oder aus gesundheitlichen Gründen nicht dazu in der Lage sind, scheint ein gemütlicher „Walk“ eine sinnvolle Alternative zu sein. Doch trainiert ein Spaziergang die Ausdauer genauso gut wie „richtiger“ Sport?
Übersicht
Studie zeigt gesundheitliche Vorteile des Spazierengehens
Gleich eine Vielzahl positive Effekte schreibt eine Studie, die im Fachmagazin PLoS One veröffentlicht wurde, dem Spazierengehen zu. So sollen Körpergewicht, Fettmasse und Körperfettanteil durch regelmäßige Spaziergänge abnehmen. Festgestellt wurde dieser Effekt bei 68 Angestellten, die einer hauptsächlich sitzenden Tätigkeit nachgingen. Die Probanden wurden in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe ging mehrmals täglich für eine kleine Runde spazieren, die zweite Gruppe machte einen ausgedehnten Spaziergang am Tag und die dritte Gruppe diente zur Kontrolle. Egal, ob der Spaziergang in mehrere kleine „Walks“ unterteilt wurde oder an einem Stück stattfand: Die positiven Effekte waren ähnlich.1 Doch wie wirkt sich der Spaziergang auf die Ausdauer aus? Kann er den normalen Sport ersetzen?
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Der Sportmediziner begrüßt die neue Liebe zum Spaziergang
Ob im Park oder Wald, allein oder mit dem Partner: Nicht nur während der Corona-Krise tat uns ein Spaziergang ganz offensichtlich gut und von vielen wird die wohltuende Bewegungsform inzwischen als Sportersatz genutzt – auch, um die Ausdauer zu steigern. Ein Trend, den auch Dr. Paul Schmidt-Hellinger, Sportmediziner an der Charité, beobachtet und als sehr positiv bewertet.
Über die gesundheitlichen Benefits der berühmten 10.000 Schritte pro Tag (entspricht bei einer durchschnittlichen Schrittlänge von 65 Zentimetern 6,5 Kilometern) hat FITBOOK berichtet. Hier soll es um größere Distanzen gehen. Welche gesundheitlichen Vorteile haben Spaziergänge von zehn Kilometern Länge und mehr? Wie sind sie im Vergleich zum Joggen einzuordnen? Inwieweit kann man damit seine Ausdauerfähigkeit verbessern? Sollte man dabei auf die Geh-Geschwindigkeit achten? Trainiert ein Spaziergang die Ausdauer genauso gut wie Sport? Und ist es am Ende des Lebens vielleicht sogar besser, ein eifriger Spaziergänger gewesen zu sein als ein Leistungssportler?
Spazierengehen und Ausdauerfähigkeit
FITBOOK: Kann man mit langen Spaziergängen seine Ausdauerfähigkeit verbessern?
Dr. Paul Schmidt-Hellinger: „Das kommt darauf an. Beim Spazieren im Sportwandertempo (6 Kilometer pro Stunde) liegt die Belastung des Herz-Kreislauf-Systems in der Regel unter 50 Prozent der maximalen Leistungsfähigkeit. Die Ausdauerfähigkeit verbessert sich ab 60 bis 70 Prozent. Wer sportlich ist, hat durch einen Spaziergang also keinen Trainingseffekt. Wer aber stark übergewichtig ist oder 20 Jahre keinen Sport getrieben hat, hat vielleicht nur die Hälfte der Ausdauerfähigkeit eines fitten Läufers – und dann ist der Trainingseffekt auf die Ausdauerfähigkeit da. Für diese Menschen ist Spazierengehen genau das Richtige!“
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Abgesehen vom psychischen Mehrwert: Inwiefern profitieren sportliche bis sehr sportliche Menschen von ausgedehnten Spaziergängen?
Schmidt-Hellinger: „Die senken ihre Verletzungsanfälligkeit und können sich über den Kalorienverbrauch freuen. Der ist nämlich gar nicht so niedrig! Eine Stunde Spazierengehen verbrennt beispielsweise so viele Kalorien wie 20 Minuten joggen – also in etwa 200 Kalorien. Als grobe Regel kann man sagen, dass ein Drittel der Jogging-Kalorien verbrannt werden. Diese Kalorien werden beim Gehen eher über den Fettstoffwechsel verbrannt und trainieren diesen. Bei einem 10-Kilometer-Lauf auf Zeit hingegen verbrennt man überwiegend Zucker. Deshalb verbessert Spazierengehen nicht unbedingt die 10-Kilometer-Bestzeit.“
Können Sportler entfallenes Training kompensieren, indem sie zu Hause die Kraft mit Bodyweightübungen stärken und als Ergänzung spazieren gehen?
Schmidt-Hellinger: „Ja, dann müssen sie aber darauf achten, beim Home-Workout in einen hohen Herzfrequenzbereich zu kommen. Mein Tipp: Kniebeugen, im Extremfall mit Luft anhalten!“
Spaziergänger vs. Leistungssportler
Jahre auf absolut hohem Leistungsniveau ist – oder der, der sein Leben lang kontinuierlich spazieren gegangen ist?
Schmidt-Hellinger: „Am Ende des Lebens schlägt die Kontingenz (Regelmäßigkeit, Anm. d. Red.) alles, was den Trainingseffekt angeht. Wer in einem Jahr beispielsweise schnell gerannt ist, tut sich im Alter nicht soviel Gutes wie der, der lebenslang moderat Sport gemacht hat – und dazu zählen regelmäßige Spaziergänge. Diese Person ist zwar nicht besonders leistungsfähig, hat aber ein gutes Grundniveau und ist mit 90 höchstwahrscheinlich fitter als ein ehemaliger Leistungssportler, der seine Reserven aufgebraucht hat und dem lediglich das Mindset eines Sportlers bleibt, wenn er wieder mit dem Training beginnen möchte.“
Wie viele Kilometer pro Tag wären optimal?
Schmidt-Hellinger: „Die menschliche Anatomie ist auf 15 Kilometer Gehen pro Tag ausgerichtet. Das wäre also optimal. Großstädter tendieren übrigens dazu, mehr zu gehen als die Landbevölkerung. Man hat ausgerechnet, dass der durchschnittliche New Yorker im Schnitt acht bis zehn Kilometer am Tag zurücklegt. Es hat mit den großen Bahnhöfen zu tun.“
Geschwindigkeit beim Spaziergang? Egal!
Welche Gehgeschwindigkeit ist ideal?
Schmidt-Hellinger: „Beim Spazierengehen sollte es mehr um Mindfulness (Fokus auf den Moment, Anm. d. Redaktion) gehen als um die Uhr. Man sollte das Tempo gehen, das einem gefällt und so lange gehen, wie man Lust hat. Dann kommt man automatisch in einen Zustand, in dem man sich fit und ausgeglichen fühlt.“
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Wie kann man sich zum Spazierengehen motivieren?
Schmidt-Hellinger: „Mich spornt es beispielsweise an, zu schauen, wie weit ich komme. Dann merke ich: Wow, so weit war ich noch nie von zu Hause weg! Dieser Ansporn steckt in uns drin, denke ich. Man kann sich z. B. auch vornehmen, mal bis zur Stadtgrenze zu gehen.“
Dr. Paul Schmidt-Hellinger (34) ist Arzt, erfolgreich auf der Marathondistanz und liebt ausgedehnte Spaziergänge. Weil der Sportler kürzlich operiert wurde, kann er momentan noch keine langen Strecken zurücklegen. Am Wochenende kam er immerhin auf 12.000 Schritte (Samstag) und 4000 Schritte am Sonntag – ergänzt um 30 Kilometer Radfahren und einen Besuch in der eigenen Gartensauna.
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Quellen
- 1. Rodriguez-Hernandez MG, Wadsworth DW. (2019). The effect of 2 walking programs on aerobic fitness, body composition, and physical activity in sedentary office employees. PLoS One.