9. August 2018, 13:31 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Die deutsche Sprinterin Gina Lückenkemper holte bei der Leichtathletik-EM in Berlin Silber über 100 Meter. Eines ihrer Erfolgsrezepte: Sie leckt an Neun-Volt-Batterien. Absurd? Nicht wirklich, es ist Teil ihres Neuroathletiktrainings. FITBOOK erklärt, wie das funktioniert und ob es jeder zur Leistungssteigerung nutzen kann.
Kurz vor einem Wettkampf an einer Batterie zu lecken, um sich einen kleinen Energiebooster zu verschaffen, klingt genauso verheißungsvoll wie skurril. Doch warum tut es dann die deutsche Top-Sprinterin Gina Lückenkemper?
Bei der Leichtathletik-WM 2017 in London sprintete die damals 20-Jährige beim 100-Meter-Lauf als erste Deutsche seit 1991 unter der Elf-Sekunden-Marke. Nun gewann sie bei der Leichtathletik-EM in Berlin Silber mit einer Zeit von 10,98 Sekunden.
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Nach ihrem Erfolg in London erklärte sie vergangenes Jahr im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF, wie sie in der Aufwärmphase vor einem Wettkampf an einer Neun-Volt-Batterie leckt. Was für Schmunzeln und Verwunderung sorgt, ist Teil ihres sogenannten Neuroathletiktrainings, das von dem Sportwissenschaftler Lars Lienhard entwickelt wurde. Gemeinsam mit der Trainerin Ulla Schmid-Fetzer verfasste er das Buch „Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings“ – das erste Werk überhaupt zu diesem Thema. Wir sprachen mit den beiden Experten, um die kuriose Methode aufzuklären.
Was ist eigentlich Neuroathletiktraining?
„Neuroathletiktraining ist sportliches Training unter Einbeziehung der neuronalen Gesetzmäßigkeiten. Im Gegensatz zu eher biomechanisch geprägten Ansätzen liegt der Fokus hier auf der zentralen Stellung des Gehirns und Nervensystems und den bewegungssteuernden Systemen“, erklärt Trainingsexperte Lars Lienhard.
Hierbei macht man sich das „Sensory Priming“, zu Deutsch „sensorisches Vorbahnen,“ zunutze. „Dabei wird ein starker, positiv wirkender Stimulus genutzt, um die Aktivität gewisser Hirnareale hochzufahren, sodass der darauf folgende Reiz – also das eigentliche Training – besser integriert werden kann“, ergänzt Co-Autorin Ulla Schmid-Fetzer. Das sei insbesondere beim motorischen Lernen ein sehr großer Zugewinn.
„Schock“ an der Zunge unterstützt Lernprozesse
Doch was hat die Zunge damit zu tun? „Stimuliert man die Zunge, kommt es zu einer sehr großen neuronalen Aktivität. Ihre Repräsentation im Gehirn (Homunkulus) liegt außerdem direkt neben einem für das motorische Lernen sehr wichtigen Hirnareal. Strukturen, die nebeneinander liegen, aktivieren sich auch gegenseitig. Das heißt, wenn ein Areal sehr aktiv ist, so führt dies auch zu neuronaler Aktivität der daneben liegenden Areale. Die Zunge eignet sich also hervorragend für das Sensory Priming“, sagt Lienhard.
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„Wird nun eine Batterie kurz auf die Zunge gehalten, so führt die erhöhte neuronale Aktivität dazu, dass die folgende Tätigkeit besser angesteuert wird. Das Sensory Priming sollte also unmittelbar vor der Handlung erfolgen, die verbessert werden soll“, fügt Schmid-Fetzer hinzu.
Als Anwendungsbeispiele werden Schusstechniken von Fußballspielern, Angleittechniken von Kugelstoßern oder eben die Armarbeit aus den Startblöcken bei Sprintern genannt.
Kleine Batterie, große Wirkung
Die Neun-Volt-Batterie ist eine praktische Art und Weise, wie man einen kleinen Schock per Elektrostimulation an der Zunge wenige Sekunden vor einer Lernsituation auslösen kann. „Die Idee, die Zunge und damit gewisse Hirnareale mit Hilfe von Strom zu stimulieren, kommt ursprünglich aus der Forschung zu motorischem Lernen“, sagt Schmid-Fetzer.
Laut den Experten ist die Wirkung in mehreren Studien belegt worden. Sowohl die neuronale Aktivität als auch die Durchblutung der angesprochenen Hirnareale seien dabei nachweisbar gestiegen. Außerdem habe sich in der Praxis gezeigt, dass neun Volt absolut ausreichend seien, schließlich ist die Zunge sehr empfindlich.
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„Viel wichtiger ist aber, dass die Effekte ganz klar im Training zu sehen sind. Es muss natürlich mit jedem Athleten individuell getestet werden ob, wie, wann und in welchem Umfang das Sinn macht“, sagt der Coach Lienhard.
Allerdings kann über die Stimulation der Zunge nicht jede Art des Lernens unterstützt werden, sondern speziell der Prozess, der für Motorik – bei Sportlern für die Bewegungstechnik – zuständig ist.
Experten im FITBOOK-Interview Warum Neuroathletik den Sport revolutionieren kann
Taugen Batterien als Energiebooster?
Fazit: Man kann seine physische Leistung nicht direkt steigern, indem man an Batterien leckt – sie sind keine Energiebooster. Doch die kleinen Elektrostimulationen können im Training sowie in der Aufwärmphase dabei helfen, Bewegungsabläufe zu optimieren, und somit letztendlich zu einem besseren Output des Sportlers beitragen.
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„Man darf aber nicht vergessen, dass diese Art der Stimulation nur ein kleiner Teil des Neuroathletiktrainings ist“, weist Expertin Schmid-Fetzer hin. Am Ende ist es nur einer von sehr vielen Bausteinen, die bei Sportlern wie Gina Lückenkemper zu einer Weltklasse-Leistung führen.