24. Januar 2020, 12:43 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Nach dem Schwimmen tief einatmen, abtauchen und schauen, wie weit es geht: Wenn sich bei normalen Menschen die Lungen nach wenigen Zügen unter Wasser anfühlen, als würden sie bersten, denkt Maria Unverricht noch gar nicht ans Luftholen. Mit nur einem einzigen Atemzug taucht die 39-Jährige im Pool bis zu 136 Meter weit. Das entspricht einer Strecke von mehr als fünf 25-Meter-Bahnen. Wie macht sie das? Und kann das jeder lernen? Ja, aber…
Wenn zuletzt die Ohren unter Wasser gleiten und nur noch der eigene Herzschlag zu hören ist, befindet sich Maria Unverricht in ihrem Element. Sie taucht ein in einen meditativen Zustand, ist ganz im Moment. Sie kann das, weil sie es Tausende Male geübt hat. Bei sich sein. An nichts denken. Sie hat die Augen nur so weit offen, dass sie mitkriegt, wohin sie taucht. Zu lange verharren darf sie in diesem Zustand nicht – Apnoetaucher müssen extrem gut darin sein, die Signale ihres eigenen Körpers zu lesen. Sich zu überprüfen, um zu wissen, wann sie auftauchen müssen: 2018 war das erst nach 136 Metern der Fall. Mit diesem Ergebnis stellte die Berlinerin den Deutschen Rekord im Streckentauchen von Dagmar Andres-Brümmer ein.
136 Meter mit nur einem Atemzug
Die 39-Jährige taucht seit 2017 regelmäßig auf Wettkämpfen, wurde noch im selben Jahr mit 125 Metern Deutsche Meisterin im Streckentauchen. Mit der Monoflosse kommt sie auf 176 Meter. Die Luft unter Wasser anhalten kann sie 5:03 Minuten lang. Gerade einmal fünf Jahre ist es her, dass Unverricht zum Apnoetauchen gekommen ist. Nach einer Urlaubserfahrung durchdrang sie der Wunsch, zu erfahren, wozu ihr Körper unter Wasser in der Lage ist. Unverricht, die nie in einem Schwimmverein war, ist mittlerweile ausgebildete Apnoe-Tauchlehrerin und stellvertretende Vorsitzende im Freitauchverein AIDA Deutschland.
Wie bereitet sie sich auf einen Wettkampf-Tauchgang vor?
Ein Wettkampftag besteht meist aus zwei Tauchgängen für jeden Athleten. In der Regel finden morgens die statischen Tauchgänge statt, nachmittags die dynamischen Disziplinen: Apnoe ohne Flossen, mit Flossen oder Mono-Flosse. Wenn die Athleten in die Halle kommen, ist es mucksmäuschenstill. Unverricht hat zu diesem Zeitpunkt nur eine Banane oder ein Müsli gegessen. „Niemand schaut sich in die Augen, alle sind bei sich“, beschreibt Unverricht die für Zuschauer etwas befremdliche Atmosphäre. Jeder Teilnehmer kennt seine exakten Startzeitpunkte, ab dem ihm nur noch weitere zehn Sekunden gegeben werden, um abzutauchen. Ist ein Tauchgang begonnen, zählt er. Es gibt keinen zweiten Versuch, für niemanden. „1,5 Stunden vor dem Tauchgang werde ich nervös. Ich bejahe mich dann und sage mir beispielsweise ‚Du versuchst das jetzt einfach!’“, erklärt sie ihre Taktik, um alles auszublenden.
Vor dynamischen Disziplinen macht sie Dehnübungen: Je beweglicher, desto weniger Widerstand hat man im Wasser. 45 Minuten vor dem Start kann sie ins Becken und sich mit Warm-up-Tauchgängen vorbereiten. Vor einem statischen Wettkampf macht sie das aber auf keinen Fall: „Dafür versuche ich, die Schläfrigkeit aus der Nacht mit in den Tauchgang zu nehmen.“ Der Countdown wird ab zwei Minuten runtergezählt. Davor sagt der 39-Jährigen ein Freund die Minuten bis zum Start an.
„“– Der deutsche Rekord bei den Männern im Pool-Streckentauchen (ohne Flossen) hält Tom Sietas mit 213 Metern. Der Weltrekord liegt bei 244 Metern bei den Männern und 191 Metern bei den Frauen.
Ab etwa acht Minuten vor dem Start beruhigt sich die Apnoe-Expertin mit der Bauchatmung. Bedeutet: Sie atmet doppelt so lange aus wie ein. „Jetzt ist die Aufregung komplett weg und ich bin nur noch damit beschäftigt, mein Zeitfenster für den Start zu erwischen und sicherzustellen, dass ich die maximale Luftmenge dabeihabe“, erklärt Unverricht. Das volle Einatmen vor einem Wettkampf dauere etwa 20 Sekunden. Bauch und Brust werden mit maximal viel Luft gefüllt. Dann taucht sie ab. Abstoßen vom Beckenrand ist erlaubt.
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Wie trainiert ein Apnoe-Profi?
Neben Dehnübungen für eine geschmeidige Fortbewegung im Wasser (geringerer Widerstand) baut die 39-Jährige in ihr Tauch-Training Schikanen ein, die die Sache erschweren. Beispielsweise taucht sie 50 Meter ausgeatmet oder nur mit Bewegung der Beine oder nur der Arme.
Aber auch außerhalb des Beckens wird trainiert: Krafttraining sowie kurze, knackige Laufeinheiten. Diese Art des Trainings vermehrt den Anteil jener Muskelfasern, die ihre Energie überwiegend anaerob – also ohne Sauerstoff – aus den Glykogendepots des Körpers beziehen. Die Rede ist von den sogenannten weißen Muskelfasern (hier können Sie mehr darüber lesen). „Wir brauchen Muskeln, die gut ohne Sauerstoff funktionieren“, erklärt die Profi-Taucherin. Kräftezehrende Ausdauereinheiten seien für Apnoe-Taucher kontraproduktiv: Der Sauerstoff wird an anderer Stelle benötigt, beispielsweise, um die Organe optimal zu versorgen.
Bei dynamischen Tauchgängen sorgt ein Bleisystem dafür, dass man auf einer Tiefe von 1,50 bis 1,60 Meter neutral im Wasser liegt und keinen Auftrieb hat. Es ist mit Schnellverschlüssen ausgestattet ist, damit es im Ernstfall schnell abgeworfen werden kann. Beim statischen Tauchen tragen die Athleten einen Anzug, der Auftrieb gibt, eine entspannte Körperhaltung ermöglicht und vor Unterkühlung schützt: Denn bei dieser Disziplin, bei der man mit dem Gesicht nach unten in einem Babybecken liegt und so lange die Luft anhält, wie man kann, wird der Kreislauf extrem heruntergefahren.
Wie viele Kalorien werden beim Freitauchen verbrannt?
Das führt uns zur Frage nach dem Kalorienverbrauch beim Freitauchen: Müsste der unter den eben genannten Voraussetzungen (heruntergefahrener Kreislauf) nicht besonders gering sein? Also Energiesparend? Unverrichts Erfahrung und Beobachtung ist eine ganz andere: „Freitaucher, die auf hohem Niveau trainieren, achten meist darauf, ihr Gewicht zu halten – also nicht weniger zu werden, um ihre Muskelmasse zu behalten.“ Studien zum Thema sind aufgrund der wenigen Probanden, mit denen sie durchgeführt werden, leider wenig aussagekräftig. Apnoetauchen ist zu sehr Randsportart, um (große) Forschungen loszutreten.
Woher weiß SIE, wann sie auftauchen muss?
Beim Apnoetauchen geht es darum, sich selbst gut einzuschätzen und realistische Ziele zu setzen. Deshalb muss Unverricht den meditative Zustand nach ein paar Minuten abbrechen. Die körperliche Phase wird eingeleitet vom Gedanken ans Atmen und bedeutet eine permanente Überprüfung der körperlichen Signale. „Ab diesem Punkt frage ich mich ständig, ob ich anfange, langsamer zu denken – und ob sich mein Sichtfeld verringert“, erklärt die 39-Jährige. Es sind Warnzeichen dafür, dass der Sauerstoffgehalt im Blut knapp wird. Ein Blackout droht nun unmittelbar.
„“– Einsteigerkurse im Apnoetauchen dauern je nach Programm und Schwerpunkt zwischen einem und drei Tagen. Kostenpunkt: ab 200 Euro. Die Seite von AIDA Deutschland informiert über das Kursangebot in Ihrer Nähe. AIDA International überträgt Live-Streams von den Pool-Disziplinen bei Weltmeisterschaften. Die nächste findet im Juni in Burgas (Bulgarien) statt.
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50 Meter weit tauchen mit nur einem Atemzug – kann das jeder?
Mit über 30 erst einsteigen? Ist das nicht zu spät? Nein, sogar eher förderlich! „Ich werde bald 40. Für Erfolg beim Apnoetauchen braucht man Selbstvertrauen, Ruhe und Geduld mit sich selbst“, sagt Unverricht. Eine gute Grundfitness helfe zwar, sei aber alles andere als ausschlaggebend. Schnellkraft beispielsweise bringe nicht viel. Ein Muskelpaket könne die Luft unter Wasser nicht automatisch länger anhalten als ein Spaziergänger. Lernen können es beide. „Wann bei jemandem der Atemreiz kommt, ist individuell sehr verschieden.“ Bei manchen komme er früh – die hätten noch Zeit. Bei anderen spät, da wird es brenzlig. „Jeder kann es schaffen, 50 Meter weit zu tauchen“, ist sich Unverricht sicher. Die Frage sei, wie man mental damit umgehe. Wie stark ist der Wille? Wie geht man mit Stress um? Wie viel Selbstvertrauen ist da? „Dann kann es gleich passieren – oder auch nie.“ In jedem Fall müsse das Ganze vorsichtig erprobt werden. Alleine trainieren? „Auf gar keinen Fall“, warnt Unverricht. Ein fachkundiges Gegenüber, bei dem man sich sicher fühlt, sei Pflicht.