27. November 2023, 11:11 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Trainieren nach Lust und Laune – kann das funktionieren, ohne dass man zu wenig trainiert oder im Gegenteil ins Übertraining gerät? Wir haben bei einem Personal Trainer nachgefragt, ob es so etwas wie ein „intuitives Training“ gibt. Die Antwort hat uns überrascht.
Hand auf den Bauch, äh, aufs Herz: wer von euch würde von sich behaupten, so etwas wie ein gutes „Bauchgefühl“ zu haben? Ich nicht. Weder bei simplen Fragen wie „Fahre ich dieses Wochenende nach Berlin, oder nicht?“ noch bei schwerwiegenderen Entscheidungen („Nehme ich den Job an, oder nicht?“) ist auf meine Intuition ernsthaft Verlass. Aus diesem Grund beziehe ich in der Regel meinen Verstand mit in Entscheidungsprozesse ein. Mit dieser Taktik stelle ich, so könnte man meinen, heutzutage eine Ausnahme dar, denn wo man auch hinschaut, scheint der Fokus ganz auf der „Intuition“ zu liegen. Vom intuitivem Essen bis zu Tipps, wie man die innere Stimme trainiert – überall scheint das Bauchgefühl ein Wörtchen mitreden zu dürfen. Seit Neuestem sogar beim Training. Hier gibt das Bauchgefühl im „intuitiven Training“ den Takt an. Doch wie funktioniert das eigentlich?
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Übersicht
Das Konzept „intuitives Training“
Das Konzept des intuitiven Trainings ist denkbar einfach. Ähnlich wie beim intuitiven Essen, dem Prinzip, nur dann zu essen, wenn man Hunger hat und dem Körper dabei genau das zu geben, wonach er verlangt, setzt das intuitive Training auf Vertrauen in den eigenen Körper und das Abschaffen von Verboten. Beim intuitiven Training soll man demnach genau in den Körper hineinhorchen und, unter Beachtung der körperlichen Signale, trainieren, wenn einem danach ist – oder eben auch einmal nicht trainieren. Zudem wählt man dabei die Sportart, nach der einem zumute ist.
Die Erfahrung der FITBOOK-Autorin mit intuitivem Training
Auf eine solche Art habe ich bereits trainiert, als ich für einen Selbstversuch zwei Wochen am Stück Sport getrieben habe. Für mich hat das Training damals funktioniert, ohne dass ich mich groß aufgerieben habe und so blieb auch ein Übertraining aus. Das mag auf den ersten Blick nun für das intuitive Training sprechen. Wenn man es genau nimmt, gab es aber auch hier einen „Plan“, nämlich eben den „zwei Wochen am Stück“-Plan als Voraussetzung, unter der mein Training stattgefunden hat. Hätte ich diesen übergeordneten Plan nicht gehabt, weiß ich nicht, ob ich tatsächlich jeden Tag trainiert hätte. Erst durch den Plan war für mich klar, dass ich Sport mache (auch dann, wenn ich müde und eher lustlos war). Mir wurde die Entscheidung sozusagen von dem Plan abgenommen; eine Funktion eines Trainingsplans, die nicht zu unterschätzen ist.
Vorteile eines Trainingsplans
Ein Trainingsplan nimmt uns schon vorab Entscheidungen ab, er gibt Halt, macht an den nötigen Stellen Druck und bremst uns aus, wenn wir uns andernfalls übernehmen würden. All das macht einen Trainingsplan zu einem wertvollen Tool.
Große Herausforderung von „intuitivem Training“
Es ist gar nicht so einfach, intuitiv zu trainieren. Je nach Typ neigen wir dazu, uns beim Sport entweder zu wenig zu anzustrengen oder aber komplett zu übernehmen – nicht immer ist es nämlich wirklich das Körper- bzw. Bauchgefühl, auf das wir hören, sondern der Kopf, das Ego, der innere Schweinehund oder aber der eigene Perfektionismus.
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Intuitives Training: ja, oder nein? Das sagt der Experte
„Ich halte nichts von intuitivem Training“, sagt der studierte Diplom-Sportwissenschaftler und Personal Trainer Andreas Heumann aus Berlin. Streng genommen stehe intuitives Training, so der Experte, schon per Definition im Gegensatz zum „Training“. „Ein Training verfolgt definitionsgemäß immer ein Ziel und soll durch die planmäßige Durchführung die Leistungsfähigkeit verbessern“, sagt Andreas. Andernfalls könne man zwar von „Bewegung“ sprechen – ohne geplante Struktur sei diese aber eben kein „Training“.
Ein Problem, was das Körpergefühl angeht, sei zudem, dass uns heutzutage, so Andreas Heumann, Bewegung regelrecht aberzogen wird: durch das ewige Sitzen in der Schule und bei der Arbeit trainiere man sich das Körpergefühl ab und wisse Signale nicht mehr richtig zu deuten. „In der westlichen Kultur haben wir einen „Körpergefühl-Aberziehungsprozess“, sagt Andreas Heumann. Dabei gehe die Intuition über die Zeit verloren. „Dazu kommt, dass Personen, die eh immer alles geben und sich überfordern, ohne Plan zu viel trainieren, und diejenigen, die ohnehin schon faul sind, machen gar nichts mehr“, sagt Andreas. Ganz ohne Plan geht es also nicht.
Eine leichte Anpassung, die in Richtung eines intuitiven Trainings geht, ist das autoregulierte Training, das, richtig eingesetzt, laut dem Fitnessexperten durchaus seine Vorteile hat.
Autoreguliertes Training statt intuitives Training
„Autoreguliertes Training bezieht den aktuellen Zustand, die Tagesform, mit ein“, sagt Andreas Heumann. Diese Art des Trainings sei dabei nicht zu verwechseln mit intuitivem Training. „Intuitives Training ist eine Bezeichnung, die sportwissenschaftlich gar nicht existiert“, sagt Andreas Heumann, „da hat sich wahrscheinlich jemand einfach überlegt, dass das ein Begriff ist, der gut zur heutigen Zeit passt.“
Autoregulierung beschreibt hingegen eine Form der geplanten Periodisierung, die Platz für Flexibilität lässt. Je nach individueller Tagesform kann dabei vom geplanten Training abgewichen werden. Bemerkt man zum Beispiel an einem Trainingstag, dass man nicht ganz in Form ist, passt man die Wiederholungszahl nach unten an oder legt ein niedrigeres Gewicht auf.
Autoreguliertes Training ermöglicht es so, das Training flexibel an die jeweilige Tagesform und an die individuelle Leistungsentwicklung anzupassen. Der aktuelle Trainingsplan wird dabei dennoch nicht über Haufen geworfen, was den Vorteil hat, dass man dauerhaft am Ball bleibt und keine faulen Ausreden erfindet. Gleichzeitig wird so die aktuelle Leistungsfähigkeit mit einbezogen und die Gefahr, sich zu überfordern, minimiert.
Vorteile von autoreguliertem Training
Dadurch, dass der Plan nicht komplett ausgesetzt wird, lernen wir so körperliche Grenzen langfristig besser einzuschätzen. „Manchmal hat man es ja, dass man vor einem Training überhaupt keine Lust hat, und dann, wenn man erst mal angefangen hat, zu trainieren, auf einmal überraschend leistungsfähig ist“, sagt Trainer Andreas Heumann.
Eine verringerte Leistungsfähigkeit könne hingegen dafür sprechen, dass es Zeit für einen Deload, also ein Training mit verringerter Belastung, sei. Durch den Plan, an dem beim autoregulierten Training weiter festhalte, komme man weiterhin seinem Ziel näher, das zu einem „Training“ per Definition immer dazugehöre. Ohne ein solches Ziel können wir zwar ebenfalls wunderbar Sport treiben und uns bewegen – ob wir damit jedoch dort landen, wo wir hinwollen, also entweder bei den „5 Kilo weniger“, „endlich ein trainierter Hintern“, „mehr Muskelmasse“, oder was auch immer unser Ziel ist, ist zweifelhaft. „Meine Erfahrung ist, dass Training strukturiert sein muss“, sagt Andreas Heumann, „consistency beats effort.“ Konsequentes Training nach Plan ist laut Experte durch Bauchgefühl also nicht zu ersetzen.
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Mit intuitivem Training ein Ziel erreichen zu können, ist ein Mythos
„Intuitives Training“, ein Training nach Lust und Laune, ganz nach dem Bauchgefühl, ist ein Mythos, der für die meisten Menschen nicht zum Ziel führt. Je nachdem, ob wir ohnehin eher dazu neigen, uns zu viel abzuverlangen oder hingegen lieber mit angezogener Handbremse unterwegs sind, werden wir uns ohne Plan entweder überfordern oder uns vor dem Training drücken.
Ganz ohne Plan zu trainieren, ist deshalb nicht empfehlenswert und steht gewissermaßen sogar im Gegensatz zur Definition von „Training“, das immer auf Fortschritt abzielt. Wohingegen nichts spricht, ist ein autoreguliertes Training, das unsere aktuelle Trainingsform berücksichtigt und bei dem wir unseren Plan an die jeweilige Tagesform anpassen können. Mit der Zeit und etwas Übung stellt sich dann möglicherweise irgendwann auch so etwas wie die Intuition ein.