13. August 2018, 10:30 Uhr | Lesezeit: 12 Minuten
Ballerina Louisa Paterson erklärt FITBOOK, warum kein Schmerz auf der Welt größer sein kann als die Freude, auf der Bühne zu stehen. Vor allem dann, wenn man als Jugendliche im Rollstuhl saß und schon den Traum vom Tanzen aufgeben sollte – nur um dann später trotzdem im Berliner Friedrichstadt-Palast zum gefeierten Star aufzusteigen. Damit es so weit kommen konnte, musste sie aber erstmal einen buchstäblich knochenbrecherischen Konkurrenzkampf durchstehen.
Wer schön sein will, muss leiden. Und wer schön Ballett tanzen will, noch mehr. Und die 24-jährige Australierin Louisa Paterson hat viel gelitten. Ihre Geschichte ist die einer starken Frau, die schon als Jugendliche in Europa ihr Glück suchte, nach zwei OPs im Rollstuhl landete, nie aufgab und entgegen aller ärztlichen Prognosen doch noch eine Tanzkarriere hinlegte: Zwei Jahre lang war sie Primaballerina im renommierten Berliner Friedrichstadt-Palast.
Gleichzeitig ist die Geschichte von Louisa auch stellvertretend für die von so vielen anderen jungen Ballettschülern, die unsagbarem Druck und geistigen wie körperlichen Entbehrungen ausgesetzt sind. Und obwohl sie ohne Medikamente mittlerweile nicht mehr laufen könnte, würde sie es immer wieder tun: sich den Traum vom Tanzen auf den Bühnen Europas zu erfüllen. Aber eins nach dem anderen.
Louisa hat eine Pause vom professionellen Tanzen eingelegt, um sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Was aber nicht heißt, dass ihr Körper nicht weiterhin ihr Kapital ist. Auf ihrem Instagram-Account begeistert sie regelmäßig ihre 30.000 Follower mit Videos und Fotos, auf denen sie die Gesetze des menschlichen Körpers mühelos außer Kraft zu setzen scheint. Beispiel gefällig?
Vor einigen Wochen hat sie ein eigenes Fitness-Programm („Train like a ballerina“) herausgebracht, das sich an Frauen und insbesondere Tänzerinnen richtet. Kernkomponente: Ballettübungen mit Krafttraining verbinden. Letzteres sei längst überfällig, erklärt sie mir. Aber bei Weitem nicht ihr einziger Kritikpunkt an der Ballettausbildung.
Louisas Kritik an Ballettschulen
Ballettschüler müssen auf vieles verzichten. Skifahren? Zu gefährlich. Skateboarding? Sowieso. Und ging es nach Louisas Lehrern an einer der renommiertesten Ballettschulen Deutschlands, gehörten im Prinzip auch Essen und Sex dazu.
„Uns wurde gesagt, wir sollten keinen Sex haben. Die Pille war ja tabu, damit man nicht ‚fett‘ wird. Und ohne Pille wäre das Risiko zu groß, schwanger zu werden. Das hätte wiederum das sichere Karriereende bedeutet, wie sie uns immer wieder eingetrichtert haben.“
Doch viel schlimmer wog ihrer Meinung nach das kategorische Schlechtmachen von Essen. Denn: Obwohl die jungen Tänzer und Tänzerinnen den ganzen Tag Sport getrieben haben, sei Essen verpönt gewesen. Zwar habe man den Mädels nie gesagt, dass sie hungern sollen, man habe sie in Ernährungsfragen aber völlig alleine gelassen und dadurch schwer verunsichert.
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„Wenn sie uns ‚zu viel‘ oder Kohlenhydrate essen sahen, schauten sie uns missbilligend an, und dann hieß es immer: ‚Esst das nicht.‘ Nur haben sie uns nie gesagt, was wir essen sollen. Letzten Endes haben wir dann gedacht, dass wir gar nichts essen dürfen.“
Schon damals, erzählt mir Louisa, habe sie geahnt, dass dieser Weg der Ernährung kein gesunder sein könne. Also suchte sie nach Alternativen. Sie fragte bei Freunden und Bekannten nach, recherchierte im Internet, fand aber keine Hilfe. Zu der Zeit sei ihr dann zum ersten Mal die Idee einer Plattform für Frauen und Tänzerinnen gekommen.
Außerdem sei der angehenden Ernährungswissenschaftlerin mittlerweile klar, dass an ihrer Schule völlig veraltete Ernährungsmythen verbreitet wurden – etwa, dass Kohlenhydrate sichere Dickmacher seien. Und gehen junge Menschen auf leeren Magen bis an ihre körperlichen Grenzen und darüber hinaus, passiert was? Sie klappen beim Training einfach um. Das sei, erzählt mir Louisa unberührt, Alltag gewesen. Man würgte sich dann einfach einen Apfel runter und weiter ging’s. Fruchtzucker, olé! Schließlich galt es, den Traum der schillernden Ballettkarriere bloß nicht zu gefährden und gegenüber seinen Mitschülern nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Louisa glaubt, dass sich die Situation an Ballettschulen hinsichtlich der Lehrpläne verbessert hat – auch wenn sie noch einen langen Weg vor sich haben. Gleichzeitig wird es für die jetzigen Jahrgänge aus einem anderen Grund nicht einfacher: „So viele Theaterhäuser müssen zumachen. Die Chancen auf einen Arbeitsplatz schwinden und der Druck auf die Schüler wird so immer größer.“
Homo homini lupus est
Wenn einer Gruppe von Menschen vieles, ja zu viel abverlangt wird, kann das zusammenschweißen. Gemeinsam ist man schließlich stark. Noch stärker war bei einigen freilich die Versuchung, für die eigene Karriere über Leichen zu gehen. Oder zumindest über gebrochene Knöchel.
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Während ihrer Zeit an der Ballettschule wurde Louisa von einer Mitschülerin die Treppe runtergeschubst. Waren die beiden verfeindet? Nein. Louisa hatte einfach nur die Hauptrolle für das nächste Stück ergattert. Die Folge: Sie hatte ein kaputtes Sprunggelenk – und die Schubserin die Hauptrolle. Ich will von Louisa wissen, warum sie das nicht der Schule gemeldet hat.
„Ich musste natürlich zur Schulleitung rein, weil die wissen wollten, wie ich die Treppe runterfallen konnte. Sie fragten mich, ob jemand nachgeholfen habe. Ich sagte ja. Sie wollten wissen, wer das war. Ich schwieg. Damit war die Sache für die Schule erledigt.“ Ich frage sie, wieso sie die Schubserin geschützt hat. „Was hätte das gebracht? Die Rolle war eh futsch. Und die Schule hatte kein Interesse an Ärger, solange die Hauptrolle weiterhin gut besetzt war.“
Auch wenn das ein Extremfall war: Der knallharte Konkurrenzkampf habe die Jugendlichen regelmäßig auf hässliche Ideen gebracht, erzählt mir Louisa. Ein Klassiker: in den Spitzenschuhen der Mitschüler Reißzwecken und Scherben platzieren.
Ein Leben mit Schmerzen
Doch das Leben als Ballerina bedeutet nicht nur Dauerdruck, sondern vor allem auch Schmerzen. Täglich. Muskelschmerzen, Rückenschmerzen, Allesschmerzen. Bei Louisa sind die Schmerzen auch heute, wo sie aktuell nicht mehr professionell tanzt, so stark, dass sie ohne regelmäßige Spritzen nicht mehr laufen könnte.
Als ich sie frage, was man ihr da genau spritzt, wird sie auf einmal nervös. Steroide, lautet ihre Antwort. Alle sechs bis acht Wochen muss sie sich den Entzündungshemmer spritzen lassen. Das Problem: Eigentlich dürfe man aus gesundheitlicher Sicht nur acht Mal in ein und dasselbe Gelenk Steroide injizieren. Bei ihren beiden großen Zehen komme sie aber schon locker auf 20 Mal – pro Gelenk, versteht sich. Wer laufen will, muss eben spritzen. Und dafür regelmäßig den Arzt wechseln, um nicht aufzufliegen.
Wie man sich mit Chemie den eigenen Körper kaputtmacht, hat Louisa schon als Jugendliche feststellen dürfen. Damals schluckte sie so viele Schmerzmittel, bis sie ein heftiges Magengeschwür bekam. Mit 17 wohlgemerkt.
Dass sie später überhaupt noch tanzen konnte, grenzt an ein medizinisches Wunder. Louisa war 14, als sie durch Europa reiste und an verschiedenen Ballettschulen vortanzte. Eines Tages bekam sie so schlimme Schmerzen im Bereich des Sprunggelenks, dass sie gezwungen war, nach Australien zurückzukehren. Dort wurde das sogenannte Os-trigonum-Syndrom diagnostiziert. Beim Os trigonum handelt es sich um einen zusätzlichen Knochen des Sprungbeins, der bei rund sieben Prozent der Bevölkerung auftritt und Schmerzen verursachen kann. Die Ärzte rieten zu einer operativen Entfernung dieses Knochens. Nach dem Eingriff saß Louisa mehrere Monate im Rollstuhl, kämpfte sich dann auf Krücken zurück. Doch die Schmerzen blieben, weil der Knochen nachwuchs. Die Ärzte wollten nicht noch mal operieren und redeten auf Louisas Eltern ein, dass ihre Tochter den Traum vom Tanzen aufgeben solle. Die Tochter schrie die Ärzte an und forderte, dass sie verdammt noch mal ihren Job machen sollen. Louisa wurde erneut operiert, landete erneut im Rollstuhl, musste erneut bei Null anfangen. Und stieg nur wenige Jahre später zum Star im Friedrichstadt-Palast auf, als Nofretete in der hochgelobten Show „The Wyld“. Übrigens auf ausdrücklichen Wunsch von Modedesigner und Regisseur Thierry Mugler, wie sie mir stolz erzählt.
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Muss man als Ballerina hungern? Oder: Empowerment, Enlightment und endlich essen
Und dann formt sich in meinem Kopf plötzlich eine Frage. Muss die Ausbildung wirklich so hart sein, damit man eines Tages Zuschauer mit Schwanensee und Co. verzaubern kann? Oder anders ausgedrückt: Muss man aus Kindern egomanische Mini-Monster machen, muss man wirklich in Ausbildung und Beruf hungern, um als Ballerina Erfolg zu haben?
Nein, findet Louisa. Auch wenn die Ursprünge des Balletts bis ins 15. Jahrhundert zurückgehen, müssten die heutigen Erziehungsformen ihrer Meinung nach nicht so antiquiert aussehen. „Der Mensch hat sich auf beeindruckende Weise weiterentwickelt, warum ist die Tanzausbildung aus didaktischer Sicht stehengeblieben? Tänzer, die in puncto Ernährung und Trainingsformen besser Bescheid wissen, werden nicht nur eine längere Karriere haben, sondern diese auch genießen können.“
Als sie während der Ausbildung regelmäßig hungerte, habe sie nicht etwa weniger gewogen, sondern mehr, rund fünf Kilo. Überraschend findet sie das nicht: „Mein Körper war aus Ernährungssicht ständig in Alarmbereitschaft. Ich gab ihm trotz des harten Trainings viel zu wenig zu essen. Wenn es dann mal eine ordentliche Portion gab, baute er es schnell zu Fettreserven auf.“ Louisa ist sich sicher, dass niemand hungern müsse, um Ballerina zu werden. Klar, auf die Ernährung zu achten, sei wichtig. Es müsse aber endlich darum gehen, sich richtig zu ernähren, nicht Essen zu verteufeln. Aufklärungsarbeit also. Selbst Cheat Days seien kein Problem: „Ich liebe Fried Chicken und Schokolade über alles – auch wenn mir das niemand glauben will! Wenn ich mal wieder gesündigt habe, esse ich am nächsten Tag einfach etwas Gesundes.“
Louisas Fitness-Programm soll außerdem unter einem bestimmten Motto stehen: „Empowerment“. Gemeint ist damit einerseits, Frauen im Allgemeinen fitter und selbstbewusster zu machen; andererseits, Tänzerinnen mit genau solchen Fitnesselementen zu stärken, die in der klassischen Ballettausbildung traditionell zu kurz kommen sollen: Kraftübungen. Denn Louisa ist sich sicher, dass Krafttraining den Arbeitsalltag von Tänzern und Tänzerinnen erleichtern könnte.
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Alles noch mal wiederholen? Oder: Eine Liebeserklärung an das Tanzen
Wenn man sich überlegt, was Louisa alles für Strapazen und Schmerzen auf sich nehmen musste, um dahin zu kommen, wo sie heute ist (und heute bedeutet eben auch tägliches Ankämpfen gegen Schmerzen), sollte eigentlich klar sein: Diese Karriereentscheidung wird, ja muss sie doch bereuen. Ihre Sicht der Dinge? „Kein Leben, kein Geld und ein kaputter Körper – aber ich würde alles genauso wieder machen!“ Die Liebe für das Tanzen sei eben stärker als alles andere, erklärt sie mir. Und was sie damit genau meint, wird in einem ihrer Instagram-Posts deutlich.
Was Louisa schreibt, ist nicht anderes als eine Liebeserklärung an das Tanzen. Und eine wunderschöne noch dazu:
„Es vergeht kein Tag, an dem ich dieses Gefühl nicht vermisse. Das Gefühl von reiner Liebe, Freude und Tanz. Die Liebe, für die jeder Tänzer so verdammt hart kämpft. Ich starte in die Woche mit einer neuen Runde Spritzen für meine Füße – denn ohne könnte ich einfach nicht mehr laufen – und frage mich, ob all der Schmerz meine kurze Zeit auf der Bühne wert war. Nur um festzustellen, dass ich es wieder machen würde, ohne auch nur darüber nachzudenken. Denn ich bin mir sicher: Jeder Tänzer wird mir darin zustimmen, dass die Liebe für den Tanz jede andere Form von Liebe in den Schatten stellt. Und wenn du mal nicht tanzen kannst, ist es so, als würde dir ein Teil deiner Seele fehlen.“
Diese Worte berühren. Gleichzeitig berührt auch Louisas Geschichte, die Ausdruck dessen ist, was ein Mensch alles schaffen kann, wenn er nur dazu gewillt ist. Was an dieser Stelle aber nicht unter den Tisch fallen darf: Die Liebe zum Ballett, so erfüllend sie auch sein mag, ist immer auch eine blinde Liebe, die Opfer fordert. Denn Louisa hat für ihren Traum vom Tanzen mit der Gesundheit bezahlt.