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Ein Anruf bei Rodrigo Lima Fernandes

BJJ-Schwarzgurtträger: „Das macht Brazilian Jiu-Jitsu mit der Persönlichkeit“

Rodrigo Lima Fernandes ist Brazilian Jiu-Jitsu-Schwarzgurtträger
Rodrigo Lima Fernandes (39) ist Brazilian-Jiu-Jitsu-Schwarzgurtträger und hat über 30 Jahre Erfahrung im Kampfsport. FITBOOK sprach mit ihm über das Training, die Faszination und die mentale Herausforderung beim Jiu-Jitsu. Foto: Chiara Dazi für BJJ Dojo Berlin
Anna Echtermeyer
Redakteurin

5. November 2024, 4:55 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten

Russell Brand, Demi Lovato, Mark Zuckerberg, Gisele Bündchen … Promis weltweit haben Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ) in ihr Leben integriert, um körperliche Fitness, Disziplin und mentale Stärke zu fördern. Worin genau besteht die Faszination des Brazilian Jiu-Jitsu? Was macht das Training mit Menschen? Ein Anruf bei Rodrigo Fernandes (39) in Berlin, Träger des dritten Schwarzgürtels und Besitzer einer BJJ-Trainingsstätte, brachte spannende Antworten.

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Für den dreifachen Schwarzgurtträger Rodrigo Lima Fernandes ist Brazilian Jiu-Jitsu zum Lebensinhalt geworden. Im Gespräch mit FITBOOK gibt er spannende Einblicke in die Entwicklung und Strategie dieser faszinierenden Kampfkunst, ihre geistigen und körperlichen Herausforderungen und erklärt, warum BJJ nicht nur körperlich fit, sondern auch mental stark macht – und wie sie bspw. bei Gehaltsverhandlungen helfen kann.

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Schwarzgurtträger: »So ist bei mir die Leidenschaft für Brazilian Jiu-Jitsu entbrannt

FITBOOK: Wie sind Sie zum Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ) gekommen?
Rodrigo Lima Fernandes: „Ich war schon als Fünfjähriger auf der Matte. Angefangen habe ich mit Judo und trainierte mit meinem älteren Bruder in einem kleinen Dojo (Trainingsraum für verschiedene japanische Kampfkünste; A. d. R.), das ‚Pará Club‘ hieß. Später bin ich zu Brazilian Jiu-Jitsu gewechselt. Der Bruder einer meiner Freunde hatte eine Garage, in der trainierten wir. So ist bei mir die Leidenschaft für Kampfsport entbrannt. Weil man bei Judo sehr viel auf die Matte knallt, hatte ich starke Rückenschmerzen. Nach meinem Umzug nach Fortaleza habe ich mich in einer Brazilian-Jiu-Jitsu-Schule angemeldet. Beim BJJ ist man mehr am Boden und bleibt auch dort. Das war gut für meinen Rücken! Heute ist Jiu-Jitsu meine Lebensgeschichte. Ich könnte den ganzen Tag darüber sprechen!“

Wie ging es mit Ihrer Leidenschaft für BJJ weiter?
„Als ich 2009 für mein Masterstudium im Ingenieurswesen nach Berlin kam, habe ich einen Ort zum Trainieren gesucht. Es gab in der Stadt damals eine einzige BJJ-Schule, sie hieß ‚Budokan‘. Ich habe mich damals etwas überreden lassen, andere zu trainieren, fand es aber dann so toll, dass ich mein Studium vorzeitig beendet habe, um BJJ-Trainer zu werden. Meine Eltern fanden das nicht so cool, aber ich bin bis heute sehr glücklich mit dieser Entscheidung.“

Haben Sie an Wettkämpfen teilgenommen?
„Ja, in Brasilien habe ich schon an vielen Wettkämpfen teilgenommen. In einigen niedrigen Gürtelkategorien habe ich damals auch Titel gewonnen. Seitdem ich in Deutschland unterrichte, habe ich meistens auch an den Europameisterschaften teilgenommen. Es ist wie ein Fluch: Immer fliege ich im Viertelfinale gegen den späteren Sieger raus … in zwei Jahren greife ich wieder an.“

Jiu-Jitsu hat seinen Ursprung in Japan. Wie hat sich daraus die brasilianische Form, das BJJ, entwickelt?
„Der japanische Jiu-Jitsu-Meister Mitsuyo Maeda – sein Spitzname ist Conde Coma – hat die Kampfart durch seine Einwanderung nach Brasilien Anfang des 19. Jahrhunderts in meine Heimat gebracht. Er und andere reisten im Land umher und forderten brasilianische Straßenkämpfer und Boxer zum Kampf auf. Nach dem Motto: ‚Kommt dann und dann in den Hafen, ich besiege jeden‘. In Brasilien wusste damals noch keiner, was diese Leute konnten. Sie waren jedenfalls sehr erfolgreich! BJJ entstand, nachdem Mitsuyo Maeda den brasilianischen Kampfsportlern Helio und Carlos Gracie das Jiu-Jitsu beigebracht hatte. Später gingen die beiden Brüder nach Rio de Janeiro und begannen, ihre Version des Jiu-Jitsu zu lehren. Es wurde früher Gracie Jiu-Jitsu genannt, heute heißt es Brazilian Jiu-Jitsu.“

„BJJ hat die klassische Jiu-Jitsu-Variante in eine Strategie gegossen, die sehr erfolgreich war“

Was hat diese Jiu-Jitsu-Meister so erfolgreich gemacht im Kampf gegen erfahrene Straßenkämpfer und Boxer?
„Diese Kämpfer haben eine bestimmte Strategie angewandt: Sie haben stets die Distanz zu ihren starken Gegnern, die eher Straßenkämpfer, Boxer oder Ringer waren, verringert. So, dass sie nicht geschlagen oder getreten werden konnten. Danach sollte man den Gegner zu Boden bringen, um seine Kraft zu neutralisieren. Diese strategische Herangehensweise, einen Gegner zu besiegen, gab es im klassischen Jiu-Jitsu nicht. Das Brazilian Jiu-Jitsu hat die klassische Variante in eine Strategie gegossen, die sehr erfolgreich war und dann in ganz Brasilien Anhänger fand. Bis heute ist Jiu-Jitsu in Brasilien sehr relevant.“

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Worin besteht für Sie die Faszination speziell dieser Kampfsportart?
„Brazilian Jiu-Jitsu ist immun gegen verschiedene Kampfstile. Es gibt nicht die eine Philosophie, alles ist offen. Ich lerne, ohne Schläge und Treten zu überleben, und zwar gegen jeden. Für mich besteht die Faszination von BJJ darin, dass man ständig über Lösungen nachdenkt – anstatt problemorientiert zu sein.“

Wie ist der Unterricht strukturiert?
„Wir trainieren Bewegungsabläufe aus verschiedenen Kampfsportstilen wie Capoeira, Aikido, Judo, Ringen oder Krav Maga. Aus den verschiedenen Techniken ergeben sich dann viele Konzepte, wie man einen Jiu-Jitsu-Kampf gewinnen kann. Das ist intellektuell extrem herausfordernd und man braucht viele Jahre, um das zu verstehen.“

„Ohne diese Verbote wäre Brazilian Jiu-Jitsu sehr gefährlich“

Was sind die wichtigsten Regeln im Brazilian Jiu-Jitsu?
„Im Sport darf man nicht schlagen und nicht treten, das sind die Hauptregeln. Außerdem darf man nicht an den Haaren ziehen oder kleine Gelenke, bspw. Finger, hebeln. Ohne diese Verbote wäre Brazilian Jiu-Jitsu sehr chaotisch und gefährlich.“

Gibt es Leute, die Sie aus Sicherheitsgründen wieder wegschicken?
„Beim Training vertraut man seinen Körper jemand anderem an, kann ihn verletzen. Und man kommt sich sehr nah. Deshalb muss ich aufpassen, wen ich trainieren lasse. Ich achte auf eine positive Ausstrahlung und darauf, ob ein Grundvertrauen entsteht. Am schlimmsten sind Menschen, die wenig Beherrschung haben. Wenn sie nach einer bestimmten Zeit trotz aller Warnungen nicht klarkommen, muss ich denen sagen: ‚Es passt nicht. Das ist fast wie in einem Club.‘ Es ist meine Aufgabe als Trainer, diese Atmosphäre zu kreieren.“

Was sind die Ziele?
„Ziel ist es, den Gegner zur Aufgabe zu bringen, indem man ihn zu Boden wirft und sich dort in eine bessere Position bringt, um einen Hebel oder einen Würger anzusetzen. Wenn der Gegner auf den Boden klopft oder schreit oder sagt, es geht nicht mehr, ist der Kampf gewonnen. Darüber hinaus gibt es auch Zeitkomponenten und Punkte, die vergeben werden, je nach Positionen, die man erreicht hat.“

Von Menschen, die BJJ machen, hört man immer wieder: ‚Je länger ich es trainiere, desto komplizierter wird es!
„Ja, es ist extrem komplex. Zum einen muss man die Körpermechanik der verschiedenen Gelenke verstehen. Zum anderen gibt es verschiedene Strategien, Techniken, Systeme. Dazu kommt das Timing. Wann wende ich was an? Ich persönlich finde BJJ intellektuell sehr herausfordernd.“

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„Der Anfang fühlt sich an, als wäre man ein Sandsack“

Wie fühlt sich der Anfang an?
„Viele Leute geben auf, weil sie es nicht verstehen. Der Anfang fühlt sich an, als wäre man ein Sandsack. Die anderen ’nutzen‘ dich, du kannst gar nichts machen.“

Zur Person: Rodrigo Lima Fernandes stammt aus Belém (Pará), wo Brazilian Jiu-Jitsu seine Ursprünge hat. 1992, im Alter von sechs Jahren, fing er mit Judo an. 2001 wechselte er zum BJJ. Fernandes trainierte bei Nova União in Fortaleza (Nordostbrasilien). Inzwischen trägt er den dritten Dan Schwarzgürtel und trainiert unter Ricardo (Rico) Vieira, Mitbegründer des bekannten internationalen brasilianischen Jiu-Jitsu-Verbands und -Teams Checkmat. Rodrigo Fernandes (39) lebt in Berlin und ist Headcoach sowie Besitzer der BJJ-Trainingsstätte Dojo Berlin.

BJJ-Schwarzgurtträger Rodrigo Lima Fernandes
Wer sich nicht beherrschen kann, ist raus. BJJ-Trainer und Schwarzgurtträger Rodrigo Lima Fernandes musste schon viele Menschen nach Hause schicken, weil sie charakterlich nicht für Brazilian Jiu-Jitsu geeignet waren. Foto: Chiara Dazi für BJJ Dojo Berlin

„Lerne, wie sich kleine Kinder am Boden bewegen“

Was muss man als Erstes lernen?
„Du musst erst einmal lernen, wie man sich am Boden bewegt. Lerne, wie sich kleine Kinder am Boden bewegen: in drei Dimensionen. Diese Bewegungsabläufe haben wir Erwachsenen völlig verlernt und es ist sehr kompliziert, das aufzubrechen und noch mal neu zu programmieren. Von zehn Anfängern sind nach einem Monat schon drei weg. Nach zwei Jahren sind noch drei oder vier dabei, meist mit dem Ziel, den blauen Gürtel zu machen. Die, die danach weitermachen, bleiben für immer.“

„Man wird extrem flexibel, gelenkig und stark“

Was macht BJJ mit der körperlichen Fitness?
„Man wird extrem flexibel, gelenkig und stark. Viele meiner Trainierenden kommenden vom Triathlon, Marathon, Gewichtheben oder Crossfit. Wirklich fitte Leute, die Anfangs aber keine fünf Minuten durchhalten. Beim Brazilian Jiu-Jitsu arbeitet der gesamten Körper: Muskeln, Herz, Kopf, Kreislauf, Atmung. Ich persönlich bin beispielsweise durch das Jiu-Jitsu beim Yoga besser geworden.“

Wie wirkt sich Brazilian Jiu-Jitsu auf die mentale Verfassung oder gar die Persönlichkeit des Trainierenden aus?
„Beim Jiu-Jitsu lernt man durch Anwendung von Strategien, ein Problem zu lösen. Welche Hebel habe ich, um den Kampf zu gewinnen? Die psychische Komponente davon kann bspw. in einem Konflikt mit dem Chef helfen. Ich bringe verbal meine Argumente ein und versuche, meinen Chef davon zu überzeugen, warum er mit mir kooperieren soll. Wenn mir dieses Argument nicht hilft, dann vielleicht ein anderes? Wenn Leute zu mir kommen, die im Job vielleicht sehr erfolgreich sind, aber ein großes Ego haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach einer Probestunde nicht mehr kommen, sehr hoch. Man macht die Erfahrung, dass man erst mal nichts kann und es viele Leute gibt, die besser sind als man selbst.“

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„Man wird toleranter und lernt, andere Perspektiven einzunehmen“

Womit wird man aus Ihrer Sicht belohnt, wenn man dabeibleibt?
„Es gibt immer jemanden von außen, der gegen dich kämpft und gegen den du kämpfst. Durch die direkte Konfrontation und das Testen von Strategien wird man toleranter und lernt, andere Perspektiven einzunehmen. Ich würde sagen, man lernt, den mittleren Weg zu denken: Es gibt immer jemanden, der besser ist und jemanden, der schlechter ist. Man selbst ist immer irgendwo dazwischen. Außerdem lernt man, Ruhe zu bewahren. Denn es kommt vor, dass man auf dem Boden festgehalten wird und nicht atmen kann.“

Was entfacht in Ihnen heute noch diese Leidenschaft für BJJ?
„Der mentale und körperliche Aspekt der Frage: Wie kann ich meine Freunde im Kampf besiegen? Welche Werkzeuge, welche Strategie brauche ich, um zu gewinnen? Es ist wie in der Wissenschaft: Man experimentiert ständig. Etwas klappt, etwas klappt nicht.“

Ist das der Süchtig-Mach-Effekt von Jiu-Jitsu?
„Genau. Du bist immer auf der Suche nach der Lösung, nach deinem Wundermittel, das du in deinem Leben anwenden kannst. Nicht nur auf die Matte, sondern auch in deinen Beziehungen. Wie ein guter Rechtsanwalt sucht man immer noch mehr Gründe, mit denen man eine Argumentation gewinnen kann. Das macht tatsächlich süchtig.“

Wie wird ein Kampf im Brazilian Jiu-Jitsu beendet?
„Man macht ein Geräusch, das signalisiert, dass man aufgibt oder nicht mehr kann. Wenn man nichts sagen kann, klopft man mit der Hand oder dem Fuß auf den Boden. Jiu-Jitsu hilft auch, zu verstehen, wann es Zeit ist, zu stoppen, die Richtung zu wechseln, wenn etwas nicht klappt, und Verantwortung für die Wirkung unserer Aktionen zu übernehmen.“

Themen Interview Kampfsport
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