22. Dezember 2020, 6:12 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Vor neun Monaten hatte ich die fixe Idee, Ende des Jahres zehn Kilometer in unter 45 Minuten zu laufen. Auf tausend Trainingskilometern habe ich Verletzungen, Frustration und Leistungsdellen bewältigt, über das Laufen nachgedacht – und unweigerlich tief in mich hineingeleuchtet. Habe ich mein Ziel erreicht? Der Tag der Entscheidung.
Wer sagt, Training ist ein kontinuierlicher Prozess, der lügt. Die Zeit seit Ende Februar, als ich für die Challenge die ersten Kilometer auf der Tartanbahn zurückgelegt habe – Coach Egidijus hatte mich, um die Aussichtslosigkeit meines Vorhabens auszuschließen, 45 Minuten im Regen Runde und Runde drehen lassen – war jedenfalls ein einziges Auf und Ab. Ich wollte doch nur 10 Kilometer laufen… in unter 45 Minuten.
Ein einziges Auf und Ab
Am einen Tag konnte ich es kaum erwarten, nach Feierabend in meine Laufsachen zu schlüpfen; am anderen stand die Unlust wie ein Riese im Flur neben den Schuhen und flirtete heftig mit mir. Mal fühlten sich die Beine auf der Strecke leicht an und liefen wie von selbst; dann kroch wieder Müdigkeit aus ihnen heraus, die das Laufen so mühsam machte, dass sich Waldboden wie Kleber unter den Schuhen anfühlte; nach langen Läufen ließ mich dieselbe Müdigkeit manchmal in exakt derselben Position aufwachen, in der ich am Abend zuvor eingeschlafen war. Mal war ich gemütstechnisch oben auf; dann wieder demoralisiert. Mal lief es eben. Dann wieder überhaupt nicht.
Und immer wieder die linke Wade. Häufig schmerzte sie nach Asphaltläufen; täuschte an, sich durch Massagen umstimmen zu lassen – um im nächsten Moment wieder zu versteinern. „Normale Anpassungserscheinungen“ sagte der Coach. „Unbedingt schonen!“, befand der Arzt. Und ich wurschtelte mich irgendwie durch. Die Tatsache, dass meine Wade inzwischen ohne zu mucken Asphalt erträgt, spricht für Theorie Nr. 1. Ja, der Coach hat wirklich verdammt oft recht…
Alle Teile der Kolumne:
- Warum ich 10 Kilometer in unter 45 Minuten laufen will
- Der höllische Funktionstest
- Fahrtspiel-Liebe und Verletzungspech
- Angst vor dem ersten Lauf seit 6 Wochen
- Mein Coach ist entsetzt
- Die magische Wirkung des Long Run
- Keine Lust mehr auf Pasta – wie ich esse, wenn ich viel laufe
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Weiterlaufen
Dass ich trotzdem Fortschritte machte, lag nicht daran, dass ich übermäßig talentiert bin (mitnichten!) oder besonders hart zu mir selbst sein kann (auch das würde ich eher mit nein beantworten). Es lag einzig und allein daran, dass ich weitergelaufen bin. Dass ich drangeblieben bin. Dass ich immer wieder den Anspruch in mir wecken konnte. Und dass ich es getan habe, anstatt es nur zu wollen. Diese Fähigkeit bescheinigt mir auch mein – mit Lob sehr sparsam umgehender – Coach Egidijus. („Kuschelpädagogik hilft nicht.“)
Der Tag, an dem ich 10 Kilometer in unter 45 Minuten laufen soll
Und dann, nach einem Frühling, einem Sommer, einem Herbst und einem Winteranfang mit insgesamt weit über tausend Trainingskilometern, ist der Tag gekommen, an dem ich 10 Kilometer in unter 45 Minuten laufen soll.
Es ist ein Samstag im Dezember, die warme Atemluft bildet Wölkchen in der fünf Grad kalten Berliner Nachmittagsluft. Ursprünglich sollte ich bei einem offiziellen Wettkampf in der Stadt an den Start gehen, gemeinsam mit tausenden anderen Läufer*innen; wer die Erfahrung in Berlin einmal gemacht hat, kennt die magische Stimmung. Berlin bekommt nicht viel auf die Reihe, Volksläufe aber sehr wohl. Doch dann kam Corona, alle Läufe wurden abgesagt. Und deshalb stehe ich kurz vor Einsetzen der Dämmerung alleine auf einer Waldweg-Kreuzung im kahlen, winterlichen Grunewald.
So lief mein Rennen
Fürs Finale habe ich mir eine überwiegend asphaltierte Pendelstrecke (2×5 Kilometer) mit sanften Hügeln ausgesucht, die auch 75 Höhenmeter beinhaltet. Objektiv betrachtet mag die Strecke schwieriger zu laufen sein als 25 Stadionrunden. Ich finde sie aber schöner, weil das Ziel geografisch wirklich in der Ferne liegt und man den zurückgelegten Weg wie viele kleine erledigte Aufgaben hinter sich lässt.
Mein Coach kann ausgerechnet heute nicht dabei sein. Verschieben sei keine Option, da er befürchtet, dass ich meine Form nicht länger halten könne. Deshalb laufe ich, was ich sonst vermieden habe, mit Musik, um mich noch ein bisschen mehr zu pushen und von der Atmung abzulenken. Die Playlist besteht aus Titeln, die mir Freunde und Familien genannt haben. Vor dem Start fühle in mich hinein, ob ich Leichtigkeit spüre. Drei Löffel Porridge mit Honig vor zwei Stunden, das Bauchgefühl gibt grünes Licht.
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Den ersten Kilometer laufe ich schneller, als ich müsste. Das ist die Anfangsenergie, die man nur einmal verballern kann und nach der die Kraft Kilometer um Kilometer nachlässt.
Kilometer zwei und drei höre ich in mich hinein und versuche vorsichtig, meinen Rhythmus zu finden. Mein Tempo schlackert noch hin und her, ein bisschen Ruhe ins Rennen bringen. Bei Kilometer vier habe ich mein Renntempo gefunden; gefühlt läuft es eigentlich ganz gut, aber die Zeit, die mir die Uhr anzeigt, liegt über der, die ich laufen müsste. Kilometer 5, jetzt die Wende irgendwie gut hinbekommen und dann nur noch ins Ziel laufen.
Auf Kilometer 6 breche ich ein, bin erschöpft, bekomme schlecht Luft. Die Pace rauscht in den Keller, eine Katastrophe. Ich richte die Gedanken auf die Kraft in den Beinen und vergrößere die Schrittweite. Diesen Reserve-Hebel hat man, wenn der Rest des Körpers erschöpft ist. Knie hochziehen, Fuß weit vorn aufsetzen, nicht darauf hören, was der Rest des Körpers signalisiert.
Es folgt die schönste Phase dieses Laufs: Kilometer 7 und 8, die mit sehr viel Leichtigkeit vorbeiziehen. Der letzte Kilometer ist ein furchtbarer Kraftakt und ich kämpfe nun nur noch mit dem Kopf gegen die Erschöpfung an. Mach. Einfach. Weiter. Mach. Einfach. Weiter. Mach. Einfach. Weiter.
Das Ergebnis
Die letzten 600 Meter. Geht noch ein Sprint? Im Wettkampf wachsen einem in dieser Phase Flügel, man fühlt eigentlich nichts mehr, nur noch Glück, die Zuschauer tragen einen über die Ziellinie. Ich hasse jeden einzelnen der letzten Schritte, die gut aussehen mögen, sich aber anfühlen wie der letzte Dreck. Ich stoppe die Uhr und sacke auf dem Waldboden zusammen. 47:22 Minuten… Siebenundvierzigzweiundzwanzig! Rufe ich laut in den Wald. Nein. Nein! Die Enttäuschung steigt in mir hoch, ich flenne drauflos.
47:22 Minuten, im Durchschnitt 4:43 Minuten pro Kilometer statt den angepeilten 4:30, pro Kilometer 13 Sekunden verloren. Wer schon einmal 1000-Meter-Läufe auf Zeit gemacht hat, weiß, wie hart es ist, 13 Sekunden herauszulaufen. Hat die Tagesform nicht gepasst? Habe ich nicht alles gegeben? War es zu kalt, zu nass, zu eklig? Fehlte das Adrenalin? Wer weiß das schon. Ich konnte nicht schneller. Nicht in diesem Moment, in dem es zählte.
„Es ist eine Trainingsleistung“, versucht mich Egidijus zu trösten. „Du kannst mit dir zufrieden sein. Die Wettkampfsituation hat dir gefehlt.“ Selbst wenn – es bleibt ein Schuss in den Ofen. Und um noch ein Sprichwort zu bemühen (das soll’s dann auch gewesen sein): Der Hase lag in Sachen Laufstil und taktische Renneinteilung im Pfeffer. Dafür hätte es mehr reale Treffen mit dem Coach gebraucht statt WhatsApp. Die waren zuletzt – auch wegen Corona – immer seltener geworden.
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Fazit
Frust? Ja, aber der hat sich auch schnell wieder gelegt. Im Rückblick würde ich sagen, dass ich neun Monate lang für das Ziel glühte, was etwas anderes ist, als lichterloh für etwas zu brennen. Und das unterscheidet mich von einem Profi, dessen intrinsische Motivation, dessen Innendruck – so stelle ich es mir jedenfalls vor – so viel Adrenalin freisetzt, dass dann auch mal die viel zitierten Flügel wachsen. Kommt dann durch einen echten Wettkampf noch Außendruck hinzu, holla die Waldfee.
Und jetzt die andere Perspektive, mit der ich auch mein Ergebnis blicken kann: Ich habe meine 10-Kilometer-Bestzeit um drei Minuten verbessert; kann aus dem Stand 25 Kilometer plus laufen und habe zwei wunderbar austrainierte Waden.
„Warum hast du das eigentlich gemacht?“, fragte meine Mutter neulich. Ich habe ihr geantwortet, dass ich gerne laufe. Dass es sehr erfüllend sein kann, auf ein sportliches Ziel hinzutrainieren und dass diese intensiven neun Monate mein Leben bereichert haben. Dass ich mich in meinem Körper wohlfühle wie nie zuvor und mir während der ganzen Zeit kein einziges Mal langweilig war.
Deshalb laufe ich auch weiter, aber erst mal ohne Uhr.
P.S. Im Längsschnitt ist alles, was um das Laufen herum mit einem passiert, manchmal schon sehr abstrakt. Als Laie ist man da schnell hilflos und die Erfahrung eines Profis sehr hilfreich. Wer sich läuferisch verbessern möchte, dem empfehle ich Coaching – in irgendeiner Form. Glaubt mir, ihr kommt in dieser Konstellation im Alltag auch leichter in die Umsetzung.
P.P.S. Wer möchte, kann mir bei Instagram folgen: @annikri. Postalisch erreicht ihr mich unter info@fitbook.de.