21. Dezember 2020, 15:58 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Vegetarier*in sein – früher war das angesagt, heute will sich dazu irgendwie niemand mehr bekennen. Liegt’s an unserer Cancel Culture?
Als ich klein war, wusste ich noch nicht viel über pflanzliche Ernährung. Was ein*e Vegetarier*in ist, hat mein Onkel mir beigebracht: Er war der Erste in der Familie, der zu dem Zeitpunkt, irgendwann zur 2000er-Wende, kein Fleisch aß. Weil er nicht wollte, dass Tiere für ihn starben.
Ich fand das ganz schön cool. Und so begann ich – ich war vielleicht sieben Jahre alt – auch meine erste vegetarische Phase. Meiner Oma klarzumachen, dass ich ihren Kaninchen-Eintopf nicht essen wollte, war schwierig, aber funktionierte.
In den frühen Nuller-Jahren war Vegetarisch-Sein noch in
Wie lange die Phase hielt, weiß ich heute nicht mehr. Zwischenzeitlich aß ich wieder Fleisch, dann nicht mehr, dann wieder, dann wieder nicht. Ich weiß nur: Vegetarisch-Sein, das wurde immer hipper. Es war angebracht und cool, und spätestens als Teenager war so ziemlich jede meiner Freundinnen Vegetarierin – die einen des Tierwohls wegen, die anderen, um ihre ungesunden Essgewohnheiten (Salat ohne Dressing, es war die Ära der Size-Zero) zu erklären.
Wenn ich mir dagegen heute meinen Freundes- und Bekanntenkreis anschaue, fallen mir nur ganz vereinzelt Personen ein, die zwar kein Fleisch essen, aber kein Problem mit Käse und Milchprodukten haben. Alle anderen: 100 Prozent Veganer – oder 100 Prozent Fleischesser.
Wer in Berlin lebt, ist gefühlt auf jedem Event, bei jeder Essenseinladung, jedem „Working Lunch“ mit der Frage konfrontiert: „You’re vegan?“ Die richtige Antwort kann dann nur „ja“ oder „nein“ heißen. Entweder man ist weltverbessernde*r Aktivist*in und verzichtet natürlich auf jede Sorte tierisches Etwas, oder man ist hedonistische*r Genussesser*in – und steht am besten auch noch auf Waffen und fährt Benziner. Und je nachdem, in welchem Kreis man sich gerade befindet, folgt dann ein erleichtertes Aufatmen oder der erste Veganer-Witz.
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Als Vegetarier*in lebt man einen gefühlten Kompromiss
Sich selbst als Vegetarier*in zu bezeichnen, fühlt sich dann irgendwie ganz komisch an – als wäre man die unfertige Version der Tierprodukte-Verweigerer*innen oder die kleine Schwester der Fleischesser*innen. Als würde man einen Kompromiss leben – ja was denn nun, kannst du dich nicht entscheiden?
Denn sich für etwas entscheiden, das ist wichtig: Die Stadt, das Land, die ganze Welt, so scheint es, ist in zwei Lager gespalten – wie bei so vielen Belangen unserer heutigen Zeit.
Vegetarier*in sein, eine Balance halten, sich nicht für das eine Extrem oder das andere entscheiden zu wollen, mehr als eine Meinung zu tolerieren, ist nicht mehr erlaubt. Sei zielstrebig! Steh für etwas! Die Cancel Culture, unsere Ganz-oder-gar-nicht-Mentalität vertreibt Vegetarier*innen in den Schatten ihrer Existenz.
In der Kantine bestellen wir einen Salat – und überlegen zweimal, ob die Feta-Würfel darauf vielleicht unseren veganen Kolleg*innen den Appetit verderben könnten. Warum eigentlich? Wann haben wir verlernt, entspannt nebeneinander zu existieren, ohne uns ständig zu vergleichen und zu bewerten?
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Ich plädiere: Liebe Vegetarier*innen, schämt euch nicht für das, was ihr seid. Ihr müsst nicht allen erklären, dass ihr zwar Milch trinkt, aber nur, wenn sie vom lokalen Biobauernhof kommt. Ihr müsst euch nicht rechtfertigen, dass zwar 75 Prozent eurer Ernährung pflanzlich ist – aber ihr im Frankreichurlaub trotzdem gerne zu Roquefort, Comté und Camembert greift. Wir haben gerade viel größere Probleme auf dieser Welt als ein Stück Käse.
(dieser Artikel erschien zuerst bei Noizz)