10. Mai 2021, 5:38 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Seit sein Vater 2018 an einem Hirntumor erkrankte, ernährt sich Nuno Alves, Editorial Director von FITBOOK, zuckerfrei. In Teil 5 seiner Kolumne schreibt er darüber, warum Scheitern nichts mit Charakterschwäche zu tun hat und was ihm beim Durchhalten hilft.
Seit dem Start dieser Zuckerfrei-Kolumne haben mich zahlreiche E-Mails erreicht. Viele der Menschen berichteten mir von ihren Versuchen, auf Zucker und Süßes zu verzichten, von den Herausforderungen, denen sie sich dabei stellen mussten, und auch: von ihrem Scheitern. Von „nicht durchhalten“ war die Rede, von „Versuchung“ oder „nicht zügeln können“. Manchmal schwangen in den offenen Worten Selbstvorwürfe mit, weil sie bei ihrer Ernährung nicht die Disziplin an den Tag legen, die sie sich gern abverlangen würden. Dabei liegt eine unglaubliche Stärke darin, so offen über vermeintliche Schwächen schreiben zu können.
Gemeinsam in den Zuckerrausch und einsam wieder raus
Beim Lesen der E-Mails wurde mir noch bewusster, wie sehr Gesellschaft und Umfeld Menschen als charakterschwach abstempeln, weil sie einem Stück Kuchen oder einer Schokolade nicht widerstehen können. So, als sei es ihre Schuld, dass sie – oft schon in ihrer Kindheit – in eine suchtähnliche Situation getrieben wurden und nun nicht so einfach von der Droge loskommen. Gemeinsam in den Rausch und einsam wieder raus – das trifft in gewisser Weise auch auf den heutigen Konsum von bestimmten Nahrungsmitteln zu, insbesondere den zuckerhaltigen.
Die US-Neurowissenschaftlerin und Ernährungsexpertin Dr. Nicole Avena bestätigte mir in einem Interview, dass das Verlangen nach Zucker „definitiv kein Zeichen von Schwäche“ sei. Wenn man stark verarbeitete Lebensmittel esse, die typischerweise einen hohen Zuckergehalt hätten, schütte das Gehirn Dopamin aus – und erzeuge damit ein ultimatives Belohnungssignal. Das gebe uns ein gutes Gefühl hinsichtlich dessen, was wir gerade gegessen haben, und „unser Gehirn sagt uns, dass wir mehr davon wollen.“ Das führe zu einer positiven Feedback-Schleife und letztlich einer Sucht – wie bei Drogen oder Alkohol.
Auch ich habe vor meinem dauerhaften Verzicht mehrfach versucht, meinen Zuckerkonsum zu drosseln. Erfolglos. Mein Verhalten ähnelte dem von Dr. Nicole Avena beschriebenen Muster. Man startet den vermeintlichen Entzug mit einem Berg an Willen, nur um ihn zum Häufchen verkümmern zu sehen, sobald etwas Süßes in Reichweite der Sinne gerät.
Über gute Gründe, die Ernährung umzustellen – und durchzuhalten
Vor 2018 hatte ich nie in Erwägung gezogen, komplett auf Haushaltszucker zu verzichten, sondern nur versucht, den Konsum zu reduzieren. Auch, weil man oft hört: „Ein bisschen Süßes schadet doch nicht, das tut doch auch mal gut“ oder so ähnlich. Also versuchte ich mich an einem Drahtseilakt: dem verantwortungsvollen und bewussten Umgang mit einem aus meiner Sicht süchtig machenden Stoff. Das führte dazu, dass ich phasenweise tatsächlich weniger Süßes aß, in anderen Momenten aber dafür umso mehr.
Der entscheidende Einschnitt, der meine erfolglose Strategie des „in Maßen“ beendete und die des Verzichts einläutete, war die Hirntumor-Erkrankung meines Vaters. Ein Neurochirurg hatte ihm damals geraten, seinen Zuckerkonsum zu reduzieren. Und ich hatte beschlossen, es mit ihm gemeinsam zu versuchen. Für mich war es Anlass und Motivation zugleich durchzuhalten.
Wenn mich also jemand fragt, welche Tipps ich habe, damit eine solche Umstellung kurz- und langfristig funktioniert, dann kann ich nur sagen, was mir geholfen hat – nämlich diesen einen guten Grund zu haben, damit anzufangen und vor allem gute Gründe zu finden, weiterzumachen. Ich persönlich finde davon immer mehr. Neben dem Andenken an meinen Vater, der wenige Monate nach der Diagnose verstarb, sind das: die positiven Effekte, die eine zuckerfreie Ernährung bei mir bewirkt; die zahlreichen Studien, die ich in meiner Anti-Zucker-Voreingenommenheit lese und die einen deutlichen Zusammenhang vieler Volksleiden mit übermäßigem Zuckerkonsum sehen; die verschwenderische Verwendung von Zucker in Lebensmitteln, die keinen benötigen.
Und natürlich kommt bei mir auch diese Prise Sturheit hinzu, dem Zucker nicht einfach so wieder Tür und Tor zu öffnen. Manche nennen es diszipliniert, andere verbissen. Beides trifft zu.
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„Überehrgeiziger Selbstoptimierer mit Hang zur Selbstkasteiung“
Selbstverständlich kann ich nicht garantieren, dass ich mein nunmehr schon mehr als drei Jahre andauerndes Zuckerfrei-Projekt für immer durchhalten werde. Aber: Ich habe es – Stand heute – vor. Diese Challenge ist Teil meines Alltags geworden. Nun werde ich, der den Zucker reduziert hat, von einigen selbst reduziert auf diese Eigenheit in meiner Ernährung. Ich bin für einige zur Person geworden, die keine Süßigkeiten isst. Zum seltsamen Typen, der Apfelkuchen mit Schlagsahne ausschlägt. Dem Nachtisch-Verweigerer. Zu einem Anti-Hedonisten (oder Zucker-Asket), der eisern, streng und übertrieben nur ans Durchziehen denkt. Zur Zuckerfrei-Spaßbremse.
Und manche verurteilen mich wohl auch als den „überehrgeizigen Selbstoptimierer mit Hang zur Selbstkasteiung“. Diese Beschreibung für die Stigmatisierung von Zucker-Abstinenzlern fand meine Kollegin Alexandra Grauvogl in ihrer Leseempfehlung für meine Kolumne.
Doch, who cares? Mir ist mittlerweile immer gleichgültiger, was andere von mir halten. Ich kenne meine Gründe und meine Motivation. Und ich habe in der Vergangenheit schon so viele Süßigkeiten gegessen, dass es für zwei oder drei Leben reichen würde. Tatsächlich wundere ich mich manchmal, warum ich nach mehr als drei Jahren immer noch zu Rechtfertigungen neige. Als sei eine „Entsüßung“ der Ernährung ein Frevel und Nasch-Nostalgie und Rührkuchen-Romantik der Maßstab für einen entspannten Umgang mit dem Leben.
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Muss Genuss immer süß sein?
Ich persönlich gehe mit dem Komplettverzicht einen radikaleren Weg, der sicherlich nicht für jeden etwas ist. Doch natürlich gönne ich weiterhin allen – inklusive meiner Töchter – Omas Kuchen, das Eis im Sommer, den Crêpe mit Zimt und Zucker. Es geht schließlich mitnichten darum, jede süße Belohnung zu streichen. Was jedoch in früheren Generationen noch etwas Besonderes war, ist heute einer Dauer-Überzuckerung gewichen.
Die Ausnahme ist zur Regel geworden. Es bleibt selten bei einer Süßigkeit am Tag: Viele Menschen – und leider auch Kinder – halten ihren Zuckerpegel mit dem Frühstück beginnend den ganzen Tag über konstant hoch, und das nicht etwa mit liebevoll selbst gebackenen und zubereiteten Kuchen oder anderen Desserts, sondern mit hoch verarbeiteten Zucker-Chemie-Mischungen aus bunten Plastikverpackungen. Angesichts einer solchen Zuckerschwemme und der durchaus realen Folgen für die Gesundheit frage ich mich denn auch: Muss Genuss wirklich so oft süß sein?
Auch Sie versuchen, auf Zucker zu verzichten? Schreiben Sie Nuno Alves mit dem Betreff „Zuckerfrei“ an zuckerfrei@fitbook.de.